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BSG - Verspätete Abgabe ALG-Antrag keine Verwirkung Verspätete Abgabe des Antragsformulars für Arbeitslosengeld II führt nicht zur Verwirkung BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 28.10.2009, B 14 AS 56/08 R
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BSG - Verspätete Abgabe ALG-Antrag keine Verwirkung Verspätete Abgabe des Antragsformulars für Arbeitslosengeld II führt nicht zur Verwirkung BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 28.10.2009, B 14 AS 56/08 R
Leitsätze
1. Der Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB 2 ist an keine Form gebunden.
2.
Nach Antragstellung hat die Behörde das Verwaltungsverfahren nach den
Regelungen des SGB 1 und des SGB 10 durchzuführen. Eine Verwirkung des
Antragsrechts nach den Grundsätzen von Treu und Glauben kommt im
Regelfall nicht in Betracht.
Tatbestand
1
Der
Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem
Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für den Zeitraum vom 9. Juni 2005
bis 2. Januar 2006.
2
Der im Mai 1981 geborene Kläger
arbeitete als Auszubildender in einem Dentallabor. Er stand ab 1.
Februar 2005 bis zum 28. Januar 2006 im Bezug von Arbeitslosengeld (Alg)
nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) bei der Agentur für
Arbeit. Zunächst wurde ihm Alg in Höhe von monatlich 113,10 Euro und ab
19. Oktober 2005 in Höhe von 126,30 Euro bewilligt.
3
Am 9.
Juni 2005 sprach der Kläger bei der Beklagten wegen der Beantragung von
Leistungen nach dem SGB II vor. Ihm wurde dabei ein Antragsformular
ausgehändigt, auf das im Feld "Tag der Antragstellung" der Stempel
"9.6.05" aufgebracht war. Persönliche Daten des Klägers wurden am 9.
Juni 2005 durch die Beklagte nicht erfasst. Am 3. Januar 2006 legte der
Kläger sodann das nunmehr ausgefüllte Antragsformular vom 9. Juni 2005
bei der Beklagten vor. Er gab an, seinen Lebensunterhalt durch das Alg
nach dem SGB III, Erspartes und Darlehen seiner Eltern bestritten zu
haben.
4
Der Kläger bewohnt eine Einraumwohnung mit 26,56 m²
Wohnfläche und einer monatlichen Nettokaltmiete von 135,40 Euro. Die
Nebenkostenvorauszahlung beträgt monatlich 65 Euro. Nach den
Feststellungen des LSG hatte er am 21. April 2005 1.633,61 Euro auf sein
Girokonto überwiesen. Sein Geldmarktkonto wies zwischen Juni 2005 und
Januar 2006 ein Guthaben zwischen 16,13 Euro und 3,52 Euro aus. Ein
Wertpapierdepot hatte am 30. Juni 2005 ein Volumen von 1.094,82 Euro,
das sich bis zum 31. Januar 2006 auf 789,51 Euro reduzierte. Das
Girokonto des Klägers verringerte sich von 1.598,49 Euro (Stand 17. Mai
2005) auf 145,94 Euro (Stand 3. Januar 2006).
5
Die Beklagte
bewilligte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom
3. Januar 2006 bis 31. Januar 2006 in Höhe von 436,77 Euro und ab 1.
Februar 2006 bis 30. Juni 2006 in Höhe von monatlich 508,22 Euro
(Bescheid vom 3. Januar 2006). Der Kläger legte hiergegen Widerspruch
ein, den er damit begründete, das Datum der Antragstellung (9. Juni
2005) sei bei der Bewilligungsentscheidung nicht berücksichtigt worden.
Der Widerspruch blieb erfolglos. In ihrem Widerspruchsbescheid vom 18.
August 2006 führte die Beklagte aus, der Kläger habe vom 9. Juni 2005
bis 2. Januar 2006 seinen Lebensunterhalt aus Alg nach dem SGB III,
Erspartem sowie Unterstützungsleistungen seiner Eltern bestreiten
können. Mangels Hilfebedürftigkeit habe daher kein Anspruch nach dem SGB
II bestanden.
6
Hiergegen hat der Kläger Klage zum
Sozialgericht (SG) Dresden erhoben, das durch Gerichtsbescheid vom 11.
Juli 2007 die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 3. Januar
2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. August 2006
verurteilt hat, dem Kläger auch für die Zeit vom 9. Juni 2005 bis
einschließlich 2. Januar 2006 Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Zur Begründung hat das SG ausgeführt, § 37 SGB II schreibe für den
notwendigen Antrag keine bestimmte Form vor. Die Beklagte sei als
Leistungsträger nach § 16 Abs 3 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I)
vielmehr verpflichtet darauf hinzuwirken, dass unverzüglich klare und
sachdienliche Anträge gestellt würden. Nur bei Vorliegen der
Voraussetzungen des § 66 Abs 1 SGB I komme eine Versagung der Leistung
wegen einer Verweigerung der Mitwirkung in Betracht. Vorliegend habe der
Kläger indes alles Erforderliche getan, um die Leistungen mit Wirkung
ab Antragstellung zu erhalten. Dass die Beklagte nicht vermerke, an wen
sie einen abgestempelten Antrag herausgebe, falle in die
Organisationssphäre der Beklagten und könne dem Leistungsempfänger nicht
zum Nachteil gereichen. Auf Seiten des Klägers hätten ab dem 9. Juni
2005 auch die Anspruchsvoraussetzungen vorgelegen. Insbesondere sei der
Kläger hilfebedürftig iS des § 9 Abs 1 SGB II gewesen. Sein monatlicher
Bedarf betrage 503,22 Euro (311 Euro Regelleistung und 192,22 Euro
Kosten der Unterkunft). Von seinen Eltern sei er lediglich in den
Monaten Oktober und November 2005 bei den Mietzahlungen unterstützt
worden. Der Kläger habe zum Zeitpunkt der Antragstellung auch über kein
den Freibetrag übersteigendes Vermögen verfügt.
7
Hiergegen
hat die Beklagte Berufung eingelegt, auf die das Landessozialgericht
(LSG) den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen
hat. Zur Begründung seines Urteils vom 15. Mai 2008 hat das LSG
ausgeführt, zwar habe der Kläger am 9. Juni 2005 wirksam einen Antrag
gestellt. Der Antrag nach § 37 SGB II sei eine einseitige
öffentlich-rechtliche Willenserklärung, für die weder eine bestimmte
Form, noch die Verwendung eines bestimmten Formulars gesetzlich zwingend
vorgegeben sei. Der Einordnung als Antrag stehe auch nicht entgegen,
dass bei der Vorsprache des Klägers keine weiteren Daten - insbesondere
auch zu seiner Person - aufgenommen worden seien. Letztlich könne dies
aber dahinstehen, ebenso wie die Frage, ob der Kläger hilfebedürftig
gemäß § 9 SGB II gewesen sei. Die mit dem Antrag des Klägers vom 9. Juni
2005 geltend gemachten Leistungsansprüche seien nämlich durch
Verwirkung erloschen. Das Rechtsinstitut der Verwirkung, das eine
Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches
Gesetzbuch) darstelle, beanspruche ungeachtet der Normierung
spezieller Mitwirkungsobliegenheiten in den §§ 60 ff SGB I auch im
Sozialrecht Geltung. Danach entfalle eine Leistungspflicht, wenn der
Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums
unterlassen habe und weitere besondere Umstände hinzutreten würden, die
nach den Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden
Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und
Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen ließen.
Vorliegend habe der Kläger nach seiner Antragstellung nichts mehr getan,
um seine Ansprüche weiter zu verfolgen. Insbesondere habe er das
ausgefüllte Antragsformular erst fast sieben Monate nach der
Antragstellung vorgelegt (Verwirkungsverhalten). Die behördliche Pflicht
nach § 16 Abs 3 SGB I, auf unverzügliche klare und sachdienliche
Anträge hinzuwirken, setze voraus, dass der jeweilige Antragsteller ein
Mindestmaß an Angaben gemacht habe, das der Behörde eine Vorprüfung auf
Vollständigkeit erst erlaube. Der Kläger habe hier nicht davon ausgehen
können, dass eine derartige Vorprüfung ohne Vorlage des Antragsformulars
und damit eine Bearbeitung seines mündlich gestellten Antrages durch
die Beklagte habe stattfinden können. Das SGB II wolle den
Hilfebedürftigen in existentiellen Notlagen Leistungen gewähren. Deshalb
habe die Beklagte angesichts des Zuwartens des Klägers darauf vertrauen
dürfen, dass dieser Leistungsansprüche nicht mehr rückwirkend geltend
machen werde. Dies gelte jedenfalls dann, wenn zwischen der als
Antragstellung zu wertenden Entgegennahme der Antragsvordrucke und der
Vorlage der ausgefüllten Antragsvordrucke mehr als sechs Monate
verstrichen seien. Der Gesetzgeber habe in § 41 Abs 1 Satz 4 SGB II den
Zeitraum von sechs Monaten als Regelbewilligungszeitraum definiert.
Dieser Zeitraum sei mithin als eine verwirkungsähnliche Sondervorschrift
zu betrachten, die eine zeitliche Grenze markiere, nach deren
Überschreiten ein Rechtsverlust durch Untätigkeit eintrete. Schließlich
habe die Beklagte auch im Vertrauen darauf, dass der Kläger keinen
Antrag stellen werde, darauf verzichtet, im streitigen Zeitraum ihr
Konzept des Förderns und Forderns (§§ 2 und 14 SGB II) durchzusetzen.
Insbesondere habe sie vom Kläger keine Pflichten eingefordert, wie zB
den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung, kontinuierliche
Bewerbungen und Nachweise dieser Bewerbungen etc (Vertrauensverhalten).
8
Hiergegen
wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Er rügt sinngemäß eine
Verletzung der §§ 37, 41 Abs 1 Satz 4 SGB II, § 16 Abs 3 SGB I und §§ 60
ff SGB I. Das LSG habe den aus dem bürgerlichen Recht abgeleiteten
Grundsatz der Verwirkung unzutreffend angewandt. Hierfür sei
erforderlich, dass bei dem Leistungsempfänger ein illoyales Verhalten
vorliege. Es müssten also immer besondere Umstände hinzutreten. An dem
sog Umstandsmoment fehle es im vorliegenden Fall. Zudem sei der
Leistungsträger nach § 16 Abs 3 SGB I verpflichtet, dafür Sorge zu
tragen, dass Anträge möglichst zügig bearbeitet werden können. Fehle es
an klaren und sachdienlichen Anträgen, so dürfe ein Antrag nicht einfach
abgelehnt oder zurückgestellt werden. Vielmehr müsse der
Leistungsträger dem Antragsteller bei der konkreten Wahrnehmung seines
Rechts in dem nach den Umständen des Einzelfalles gebotenen Umfang
behilflich sein. Die Beklagte habe sich bei der Abgabe des
Antragsformulars offensichtlich keine Aufzeichnungen darüber gemacht,
dass er - der Kläger - einen mündlichen Antrag auf Leistungen nach dem
SGB II gestellt habe. Dadurch habe sich die Beklagte selbst in den
Zustand versetzt, keinerlei Nachfragen zu dem Antrag stellen zu können.
Aus dieser fehlenden Dokumentation ergebe sich, dass die Beklagte sich
in keiner Weise verfahrensmäßig eingerichtet habe. Den
Leistungsempfänger träfen die Mitwirkungspflichten gemäß §§ 60 ff SGB I.
Zu einer Leistungsversagung könne es nach § 66 Abs 1 SGB I nur kommen,
wenn der Leistungsberechtigte auf seine Mitwirkungspflichten unter
Fristsetzung konkret hingewiesen worden sei. Dies sei im vorliegenden
Fall nicht geschehen. Schließlich überdehne das LSG auch § 41 Abs 1 Satz
4 SGB II, wenn es hieraus einen Sechs-Monats-Zeitraum als generelle
Grenze für die Verwirkung von Anträgen ableite. Es handele sich bei § 41
Abs 1 Satz 4 SGB II lediglich um eine Sollvorschrift, wobei aus
vielfachen Gründen eine abweichende Bewilligungsdauer bestimmt werden
könne.
9
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sächsischen
Landessozialgerichts vom 15. Mai 2008 aufzuheben und die Berufung der
Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 11.
Juli 2007 zurückzuweisen.
10
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
11
Sie
geht mit dem LSG davon aus, dass der Antrag gemäß § 37 SGB II nicht an
eine Form gebunden sei. Allerdings sei sie ihren aus dem Antrag
entstehenden verfahrensrechtlichen Pflichten nachgekommen, indem sie den
Revisionskläger mittels Aushändigung des Antragsformulars und eines
weiteren Merkblatts auf alle Fragen und Probleme hingewiesen habe, die
der Revisionskläger im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten gemäß §§ 60 ff
SGB I anzugeben bzw zu beweisen habe. Weitergehende
verfahrensrechtliche Verpflichtungen seien aus der Vorsprache vom 9.
Juni 2005 nicht herleitbar. Es gehöre nicht zu ihren Aufgaben, angeblich
Hilfebedürftigen in existentieller Notlage "nachzulaufen", um
Leistungsansprüche festzustellen und ggf bewilligen zu können. Eine
existentielle Notlage sei schon immer dann in Frage zu stellen, wenn sie
den Notleidenden nicht veranlasse, sich so zu verhalten, dass diese
Situation möglichst schnell beseitigt werden könne. Zu berücksichtigen
sei schließlich auch, dass das Leistungsrecht des Klägers nur dann
bestehe, wenn er auch in der Lage sei, seine wirtschaftlichen
Verhältnisse - etwa durch Aufnahme einer Arbeit - zu ändern. Dieser
Nachweis sei bisher nicht erbracht worden, sodass materiell-rechtliche
Ansprüche gar nicht entstanden seien. Verfahrensrechtlicher Antrag und
materiell-rechtlicher Anspruch könnten bei Fällen wie dem vorliegenden
zeitlich auseinanderfallen.
Entscheidungsgründe
12
Die
Revision des Klägers ist begründet. Dem Kläger steht nach dem
Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG ein Anspruch auf
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß §§ 19 ff SGB II für
den Zeitraum ab dem 9. Juni 2005 zu (1.). Der Kläger hat am 9. Juni 2005
einen wirksamen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende gemäß § 37 SGB II gestellt (vgl hierzu unter 2.). Zu
Unrecht ist das LSG davon ausgegangen, dass der Anspruch des Klägers
entsprechend § 242 BGB verwirkt war, weil der Kläger nach der
Antragstellung seine Ansprüche nicht weiter verfolgt hat (hierzu unter
3.). Der Anspruch des Klägers besteht auch für den gesamten geltend
gemachten Zeitraum bis zum 2. Januar 2006 (vgl hierzu unter 4.).
13
1.
Der Kläger war ab 9. Juni 2005 Berechtigter iS der §§ 7, 19 ff SGB II.
Gemäß § 7 Abs 1 SGB II (in der hier maßgebenden Fassung des § 7 durch
das Kommunale Optionsgesetz vom 30. Juli 2004, BGBl I 2014) erhalten
Leistungen nach dem SGB II Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet
und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, 2. erwerbsfähig
sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland haben. Die Anspruchsvoraussetzungen des § 7
Abs 1 Nr 1 bis 4 SGB II lagen bei dem Kläger vor. Er war insbesondere
erwerbsfähig iS des § 8 SGB II. Ebenso war seine Hilfebedürftigkeit
gemäß § 7 Abs 1 Nr 3 iVm §§ 9, 11, 12 SGB II gegeben. Der Kläger
verfügte nach den Feststellungen des LSG über kein weiteres Einkommen iS
des § 11 SGB II als das ihm gewährte Alg nach dem SGB III. Ebenso
überstieg sein Vermögen nicht den ihm zustehenden Freibetrag von 5.550
Euro (gemäß § 12 Abs 2 Nr 1 SGB II idF des Vierten Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003, BGBl I 2954: 200
Euro je vollendetem Lebensjahr und 750 Euro gemäß § 12 Abs 2 Nr 4 SGB
II).
14
2. Der Kläger hat auch gemäß § 37 Abs 1 SGB II einen
wirksamen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
gestellt. Dies haben auch die Vorinstanzen zutreffend erkannt. Der
Antrag auf Leistungen der Grundsicherung nach § 37 SGB II ist
grundsätzlich an keine Form gebunden. Es gilt insofern der Grundsatz der
Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens (vgl § 9 des Zehnten Buches
Sozialgesetzbuch; hierzu Link in Eicher/ Spellbrink, SGB
II, 2. Aufl 2008, § 37 RdNr 20; Schoch in LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 37
RdNr 10; Müller in Hauck/Noftz, SGB II, K § 37 RdNr 11, Stand 11/2004).
Der Antrag nach dem SGB II ist eine einseitige, empfangsbedürftige
öffentlich-rechtliche Willenserklärung (vgl Link aaO; Schoch aaO; Müller
aaO), auf die - soweit sich nicht aus sozialrechtlichen Bestimmungen
Anderweitiges ergibt - die Regelungen des BGB Anwendung finden (§§ 130
ff BGB). Mit der Willenserklärung des Antragstellenden muss mithin
lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass Leistungen vom Träger der
Grundsicherung für Arbeitsuchende begehrt werden. Bei der Beurteilung,
ob und welche Leistungen beantragt werden sollen, ist dabei der
wirkliche Wille des Antragstellers zu erforschen. Nach den nicht mit
Verfahrensrügen angegriffenen und daher bindenden (§ 163
Sozialgerichtsgesetz) Feststellungen des LSG hat der Kläger
am 9. Juni 2005 eine Sachbearbeiterin der Beklagten aufgesucht und dort
erklärt, er erhalte Alg nach dem SGB III und strebe eine Aufstockung
durch Alg II an. Die Sachbearbeiterin habe ihm daraufhin das
Antragsformular ausgehändigt. Zutreffend hat das LSG dieses Verhalten
des Klägers als eine Antragstellung gemäß § 37 Abs 1 SGB II rechtlich
gewertet. Eine Auslegung des Verhaltens bzw der Erklärung des Klägers
musste ergeben, dass er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II begehre. Der Kläger durfte auch - was das LSG ebenfalls
zutreffend gewertet hat - davon ausgehen, dass die Beklagte sein
Begehren verstanden hat. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass die
Beklagte ihm ein Antragsformular ausgehändigt hat, in dem unter der
Rubrik "Tag der Antragstellung" mit einem Stempel der 9. Juni 2005
kenntlich gemacht wurde. Insofern durfte der Kläger bei einer
laienhaften Wertung des Verhaltens der Beklagten davon ausgehen, dass
die Beklagte seine Vorsprache als Antragstellung betrachten wolle.
15
3.
Die durch die Antragstellung vom 9. Juni 2005 bei der Beklagten geltend
gemachten Leistungsansprüche des Klägers nach dem SGB II sind auch
nicht gemäß § 242 BGB durch Verwirkung erloschen.
16
a) Es
bestehen bereits Zweifel, ob die Beklagte, wovon das LSG ausgegangen
ist, sich überhaupt auf Verwirkung berufen kann, denn die Beklagte hat
ihrerseits in dem durch den Antrag des Klägers eröffneten
Sozialrechtsverhältnis ihre eigenen Rechte und Verpflichtungen aus dem
Verwaltungsverfahrensrecht des SGB I und SGB X nur unzulänglich
ausgeschöpft. Der Antrag gemäß § 37 Abs 1 SGB II hat zwar nach der
Rechtsprechung des Senats zunächst konstitutive Wirkung für einen
Leistungsanspruch, wovon auch der Gesetzgeber des SGB II selbst ausging
(vgl BT-Drucks 15/1516 S 62 zu § 37; zur Bedeutung der Antragstellung
als Zäsur etwa für die Wertung, ob bestimmte Geldzuflüsse Einkommen oder
Vermögen darstellen, vgl das Urteil des Senats vom 30. Juli 2008, B
14/7b AS 12/07 R). Der Antrag gemäß § 37 Abs 1 SGB II hat darüber hinaus
aber auch eine verfahrensrechtliche Bedeutung, indem der potentiell
Hilfebedürftige durch die Antragstellung dem Grundsicherungsträger
signalisiert, dass er nunmehr die Einleitung eines Verwaltungsverfahrens
(§§ 8 ff SGB X iVm § 40 Abs 1 SGB II) begehrt, das grundsätzlich mit
dem Erlass eines Verwaltungsaktes (Ablehnung oder Bewilligung der
Leistungen) abgeschlossen wird. Im Rahmen dieses durch den Antrag
eröffneten Verwaltungsverfahrens treffen sowohl die Behörde wie auch den
Antragsteller bestimmte Pflichten, die im Einzelnen im SGB I und SGB X
normiert sind. So muss der Grundsicherungsträger gemäß § 16 Abs 3 SGB I
darauf hinwirken, dass der Antragsteller unverzüglich klare und
sachdienliche Anträge stellt und unvollständige Angaben ergänzt.
Weiterhin treffen den Grundsicherungsträger gemäß §§ 14 ff SGB I
weitgehende Beratungs- und Aufklärungspflichten. Dem korrespondiert die
Verpflichtung des antragstellenden Bürgers, im Verwaltungsverfahren
mitzuwirken. So kann nach § 60 SGB I von dem Antragsteller verlangt
werden, bestimmte Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des
zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer
Vorlage zuzustimmen (§ 60 Abs 1 Nr 3 SGB I; vgl zur Vorlagepflicht von
Kontounterlagen das Urteil des Senats vom 19. September 2008 - B 14 AS
45/07 R - BSGE 101, 260 = SozR 4-1200 § 60 Nr 2). Dementsprechend hätte
die Beklagte hier gemäß § 60 Abs 2 SGB I vom Kläger verlangen können,
bestimmte Vordrucke - wie etwa das Antragsformular - zu benutzen und
dieses ausgefüllt vorzulegen. § 66 SGB I sieht bei fehlender oder nicht
rechtzeitiger Mitwirkung die Sanktion der Leistungsversagung vor, wenn
die dort genannten formalen Voraussetzungen erfüllt sind. Gerade das
austarierte Regelungsinstrumentarium der Mitwirkungsvorschriften in den
§§ 60 ff SGB I macht deutlich, dass die leistungsauslösende Wirkung des
Antrags von einem Sozialleistungsträger in der Regel nicht durch die
Berufung auf Verwirkung beseitigt werden kann. Insbesondere § 66 Abs 3
SGB I zeigt, dass ein Leistungsberechtigter nach Einleitung eines
Verwaltungsverfahrens nach §§ 8 ff SGB X darauf vertrauen kann, dass er
auf Mitwirkungsversäumnisse schriftlich hingewiesen wird und zudem die
Gelegenheit erhält, das Versäumte nachzuholen. Die Beklagte wäre daher
hier nach der Antragstellung durch den Kläger vorrangig gehalten
gewesen, im Wege der §§ 60 ff SGB I die Mitwirkung des Klägers - mit
entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten - einzufordern.
17
b)
Ungeachtet dessen ist aber auch unter Zugrundelegung der aus § 242 BGB
abzuleitenden und ergänzend in das Sozialrecht übertragbaren Grundsätze
der Verwirkung (vgl grundlegend BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr
6; BSGE 59, 87, 94 = SozR 2200 § 245 Nr 4) nicht davon auszugehen, dass
der Leistungsanspruch des Klägers hier verwirkt ist. Nach § 242 BGB iVm
den Grundsätzen des Sozialrechtsverhältnisses entfällt eine
Leistungspflicht im Sozialrecht, wenn der Berechtigte die Ausübung
seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und
weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des
Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete
Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben und dem Verpflichteten
gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche die Verwirkung
auslösenden Umstände liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines
bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf
vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde
(Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut
hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und
sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet
hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung
des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl BSGE 80, 41,
43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6). Das LSG hat derartige besondere Umstände
im Verhalten des Klägers, die gerade bei dem Grundsicherungsträger eine
besondere Vertrauensgrundlage geschaffen haben könnten, nicht
festgestellt. Zu Recht weist der Kläger darauf hin, dass die Beklagte
offensichtlich keine Vorkehrungen dafür getroffen hat, wie mit
ausgegebenen und mit Datumsstempel versehenen Antragsformularen
umzugehen war. Die Beklagte hat - wovon auch das LSG offensichtlich
ausgeht - noch nicht einmal die Anschrift und Personalien derjenigen
Personen erfasst, an die sie die mit einem Datum versehenen
Antragsformulare ausgegeben hat. Insofern kann auch bei der Beklagten
kein besonderes Vertrauen dahingehend begründet worden sein, dass der
Kläger nicht wiederkommen bzw seinen Antrag nicht aufrechterhalten
werde. Ebenso ist nicht erkennbar, inwiefern der Beklagten als Träger
öffentlicher Verwaltung ein unzumutbarer Nachteil dadurch entstehen
könnte, dass dem Kläger nunmehr nachträglich noch Leistungen nach dem
SGB II zu bewilligen sind. Die Beklagte verkennt insofern, dass das SGB
II - anders als früher das Sozialhilferecht - nicht mehr von einem
"Aktualitätsgrundsatz" geprägt ist, nach dem dem Antragsteller
möglicherweise entgegengehalten werden konnte, er habe in der
Vergangenheit ja überlebt bzw gelebt, ohne dass Leistungen zur Sicherung
des Existenzminimums tatsächlich gewährt worden seien.
18
Gerade
weil die Beklagte das Verwaltungsverfahren gemäß §§ 8 ff SGB X nicht
durchgeführt hat, war es der Beklagten im übrigen auch nicht möglich,
mit dem Kläger eine Eingliederungsvereinbarung gemäß § 15 SGB II zu
schließen bzw diesen mit Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit gemäß §
16 SGB II zu konfrontieren. Dass dieses Verwaltungshandeln, zu dem sie
verpflichtet gewesen wäre, unterblieben ist, kann mithin auch nicht zu
Lasten des Klägers berücksichtigt werden.
19
4. Der Anspruch
des Klägers bestand auch für den Zeitraum ab Antragstellung bis zum 2.
Januar 2006. Zwar schreibt § 41 Abs 1 Satz 4 SGB II vor, dass die
Leistungen jeweils für sechs Monate bewilligt und monatlich im Voraus
erbracht werden sollen. Hieraus folgt jedoch nicht zwingend, dass
jeweils nach Ablauf des Sechs-Monats-Zeitraums ein neuer Antrag zu
stellen wäre bzw vorherige rechtliche Tatbestände (wie etwa eine
Antragstellung) untergehen (vgl hierzu auch zum Verhältnis von Antrags-
bzw Bewilligungszeitraum und sog Verteilzeitraum Urteil des 4. Senats
des Bundessozialgerichts vom 30. September 2008 - B 4 AS
29/07 R - BSGE 101, 291 = SozR 4-4200 § 11 Nr 15). Ebenso haben die
Senate des BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass bei einer
Leistungsablehnung der streitige Zeitraum sich über den gesamten
möglichen Bewilligungszeitraum bis zum Abschluss der letzten mündlichen
Verhandlung vor dem LSG erstreckt, ohne dass insofern eine Bindung an
den Sechs-Monats-Zeitraum des § 41 Abs 1 Satz 4 SGB II eintritt (stRspr
seit BSGE 97, 265 = SozR 4-4200 § 20 Nr 3, jeweils RdNr 19; zuletzt etwa
Urteil des Senats vom 2. Juli 2009 - B 14 AS 54/08 R - RdNr 11). Es
bestehen auch keine Bedenken, dass das SG, dessen Entscheidungstenor
durch das Urteil des Senats wiederhergestellt wird, dem Kläger
Leistungen bis einschließlich 2. Januar 2006 zugesprochen hat. Soweit
aus den Akten ersichtlich, ist im Rahmen des Leistungsbezugs nach dem
SGB III für den Zeitraum vom 4. August 2005 bis 17. August 2005 eine
Sperrzeit eingetreten. Gemäß § 31 Abs 4 Nr 3 Buchst a SGB II ist der
Grundsicherungsträger insofern an die Feststellung einer Sperrzeit durch
die Agentur für Arbeit gebunden. Dementsprechend wird dem Kläger für
den Zeitraum der zweiwöchigen Sperrzeit Alg II nur in einem abgesenkten
Umfang gemäß § 31 Abs 1 SGB II bewilligt werden können. Nach § 31 Abs 6
Satz 1 2. Halbsatz SGB II tritt jedenfalls im Fall des § 31 Abs 4 Nr 3
Buchst a SGB II Absenkung und Wegfall nach dem SGB II mit dem Beginn der
Sperrzeit oder dem Erlöschen des Anspruchs nach dem SGB III ein. Eine
mögliche Absenkung der Leistungshöhe lässt aber den Anspruch des Klägers
auf Alg II für den geltend gemachten Zeitraum nicht dem Grunde nach
entfallen.
20
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
http://juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=en&nr=11361
Gruß Willi S
1. Der Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB 2 ist an keine Form gebunden.
2.
Nach Antragstellung hat die Behörde das Verwaltungsverfahren nach den
Regelungen des SGB 1 und des SGB 10 durchzuführen. Eine Verwirkung des
Antragsrechts nach den Grundsätzen von Treu und Glauben kommt im
Regelfall nicht in Betracht.
Tatbestand
1
Der
Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem
Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für den Zeitraum vom 9. Juni 2005
bis 2. Januar 2006.
2
Der im Mai 1981 geborene Kläger
arbeitete als Auszubildender in einem Dentallabor. Er stand ab 1.
Februar 2005 bis zum 28. Januar 2006 im Bezug von Arbeitslosengeld (Alg)
nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) bei der Agentur für
Arbeit. Zunächst wurde ihm Alg in Höhe von monatlich 113,10 Euro und ab
19. Oktober 2005 in Höhe von 126,30 Euro bewilligt.
3
Am 9.
Juni 2005 sprach der Kläger bei der Beklagten wegen der Beantragung von
Leistungen nach dem SGB II vor. Ihm wurde dabei ein Antragsformular
ausgehändigt, auf das im Feld "Tag der Antragstellung" der Stempel
"9.6.05" aufgebracht war. Persönliche Daten des Klägers wurden am 9.
Juni 2005 durch die Beklagte nicht erfasst. Am 3. Januar 2006 legte der
Kläger sodann das nunmehr ausgefüllte Antragsformular vom 9. Juni 2005
bei der Beklagten vor. Er gab an, seinen Lebensunterhalt durch das Alg
nach dem SGB III, Erspartes und Darlehen seiner Eltern bestritten zu
haben.
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Der Kläger bewohnt eine Einraumwohnung mit 26,56 m²
Wohnfläche und einer monatlichen Nettokaltmiete von 135,40 Euro. Die
Nebenkostenvorauszahlung beträgt monatlich 65 Euro. Nach den
Feststellungen des LSG hatte er am 21. April 2005 1.633,61 Euro auf sein
Girokonto überwiesen. Sein Geldmarktkonto wies zwischen Juni 2005 und
Januar 2006 ein Guthaben zwischen 16,13 Euro und 3,52 Euro aus. Ein
Wertpapierdepot hatte am 30. Juni 2005 ein Volumen von 1.094,82 Euro,
das sich bis zum 31. Januar 2006 auf 789,51 Euro reduzierte. Das
Girokonto des Klägers verringerte sich von 1.598,49 Euro (Stand 17. Mai
2005) auf 145,94 Euro (Stand 3. Januar 2006).
5
Die Beklagte
bewilligte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom
3. Januar 2006 bis 31. Januar 2006 in Höhe von 436,77 Euro und ab 1.
Februar 2006 bis 30. Juni 2006 in Höhe von monatlich 508,22 Euro
(Bescheid vom 3. Januar 2006). Der Kläger legte hiergegen Widerspruch
ein, den er damit begründete, das Datum der Antragstellung (9. Juni
2005) sei bei der Bewilligungsentscheidung nicht berücksichtigt worden.
Der Widerspruch blieb erfolglos. In ihrem Widerspruchsbescheid vom 18.
August 2006 führte die Beklagte aus, der Kläger habe vom 9. Juni 2005
bis 2. Januar 2006 seinen Lebensunterhalt aus Alg nach dem SGB III,
Erspartem sowie Unterstützungsleistungen seiner Eltern bestreiten
können. Mangels Hilfebedürftigkeit habe daher kein Anspruch nach dem SGB
II bestanden.
6
Hiergegen hat der Kläger Klage zum
Sozialgericht (SG) Dresden erhoben, das durch Gerichtsbescheid vom 11.
Juli 2007 die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 3. Januar
2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. August 2006
verurteilt hat, dem Kläger auch für die Zeit vom 9. Juni 2005 bis
einschließlich 2. Januar 2006 Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Zur Begründung hat das SG ausgeführt, § 37 SGB II schreibe für den
notwendigen Antrag keine bestimmte Form vor. Die Beklagte sei als
Leistungsträger nach § 16 Abs 3 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I)
vielmehr verpflichtet darauf hinzuwirken, dass unverzüglich klare und
sachdienliche Anträge gestellt würden. Nur bei Vorliegen der
Voraussetzungen des § 66 Abs 1 SGB I komme eine Versagung der Leistung
wegen einer Verweigerung der Mitwirkung in Betracht. Vorliegend habe der
Kläger indes alles Erforderliche getan, um die Leistungen mit Wirkung
ab Antragstellung zu erhalten. Dass die Beklagte nicht vermerke, an wen
sie einen abgestempelten Antrag herausgebe, falle in die
Organisationssphäre der Beklagten und könne dem Leistungsempfänger nicht
zum Nachteil gereichen. Auf Seiten des Klägers hätten ab dem 9. Juni
2005 auch die Anspruchsvoraussetzungen vorgelegen. Insbesondere sei der
Kläger hilfebedürftig iS des § 9 Abs 1 SGB II gewesen. Sein monatlicher
Bedarf betrage 503,22 Euro (311 Euro Regelleistung und 192,22 Euro
Kosten der Unterkunft). Von seinen Eltern sei er lediglich in den
Monaten Oktober und November 2005 bei den Mietzahlungen unterstützt
worden. Der Kläger habe zum Zeitpunkt der Antragstellung auch über kein
den Freibetrag übersteigendes Vermögen verfügt.
7
Hiergegen
hat die Beklagte Berufung eingelegt, auf die das Landessozialgericht
(LSG) den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen
hat. Zur Begründung seines Urteils vom 15. Mai 2008 hat das LSG
ausgeführt, zwar habe der Kläger am 9. Juni 2005 wirksam einen Antrag
gestellt. Der Antrag nach § 37 SGB II sei eine einseitige
öffentlich-rechtliche Willenserklärung, für die weder eine bestimmte
Form, noch die Verwendung eines bestimmten Formulars gesetzlich zwingend
vorgegeben sei. Der Einordnung als Antrag stehe auch nicht entgegen,
dass bei der Vorsprache des Klägers keine weiteren Daten - insbesondere
auch zu seiner Person - aufgenommen worden seien. Letztlich könne dies
aber dahinstehen, ebenso wie die Frage, ob der Kläger hilfebedürftig
gemäß § 9 SGB II gewesen sei. Die mit dem Antrag des Klägers vom 9. Juni
2005 geltend gemachten Leistungsansprüche seien nämlich durch
Verwirkung erloschen. Das Rechtsinstitut der Verwirkung, das eine
Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches
Gesetzbuch
spezieller Mitwirkungsobliegenheiten in den §§ 60 ff SGB I auch im
Sozialrecht Geltung. Danach entfalle eine Leistungspflicht, wenn der
Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums
unterlassen habe und weitere besondere Umstände hinzutreten würden, die
nach den Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden
Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und
Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen ließen.
Vorliegend habe der Kläger nach seiner Antragstellung nichts mehr getan,
um seine Ansprüche weiter zu verfolgen. Insbesondere habe er das
ausgefüllte Antragsformular erst fast sieben Monate nach der
Antragstellung vorgelegt (Verwirkungsverhalten). Die behördliche Pflicht
nach § 16 Abs 3 SGB I, auf unverzügliche klare und sachdienliche
Anträge hinzuwirken, setze voraus, dass der jeweilige Antragsteller ein
Mindestmaß an Angaben gemacht habe, das der Behörde eine Vorprüfung auf
Vollständigkeit erst erlaube. Der Kläger habe hier nicht davon ausgehen
können, dass eine derartige Vorprüfung ohne Vorlage des Antragsformulars
und damit eine Bearbeitung seines mündlich gestellten Antrages durch
die Beklagte habe stattfinden können. Das SGB II wolle den
Hilfebedürftigen in existentiellen Notlagen Leistungen gewähren. Deshalb
habe die Beklagte angesichts des Zuwartens des Klägers darauf vertrauen
dürfen, dass dieser Leistungsansprüche nicht mehr rückwirkend geltend
machen werde. Dies gelte jedenfalls dann, wenn zwischen der als
Antragstellung zu wertenden Entgegennahme der Antragsvordrucke und der
Vorlage der ausgefüllten Antragsvordrucke mehr als sechs Monate
verstrichen seien. Der Gesetzgeber habe in § 41 Abs 1 Satz 4 SGB II den
Zeitraum von sechs Monaten als Regelbewilligungszeitraum definiert.
Dieser Zeitraum sei mithin als eine verwirkungsähnliche Sondervorschrift
zu betrachten, die eine zeitliche Grenze markiere, nach deren
Überschreiten ein Rechtsverlust durch Untätigkeit eintrete. Schließlich
habe die Beklagte auch im Vertrauen darauf, dass der Kläger keinen
Antrag stellen werde, darauf verzichtet, im streitigen Zeitraum ihr
Konzept des Förderns und Forderns (§§ 2 und 14 SGB II) durchzusetzen.
Insbesondere habe sie vom Kläger keine Pflichten eingefordert, wie zB
den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung, kontinuierliche
Bewerbungen und Nachweise dieser Bewerbungen etc (Vertrauensverhalten).
8
Hiergegen
wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Er rügt sinngemäß eine
Verletzung der §§ 37, 41 Abs 1 Satz 4 SGB II, § 16 Abs 3 SGB I und §§ 60
ff SGB I. Das LSG habe den aus dem bürgerlichen Recht abgeleiteten
Grundsatz der Verwirkung unzutreffend angewandt. Hierfür sei
erforderlich, dass bei dem Leistungsempfänger ein illoyales Verhalten
vorliege. Es müssten also immer besondere Umstände hinzutreten. An dem
sog Umstandsmoment fehle es im vorliegenden Fall. Zudem sei der
Leistungsträger nach § 16 Abs 3 SGB I verpflichtet, dafür Sorge zu
tragen, dass Anträge möglichst zügig bearbeitet werden können. Fehle es
an klaren und sachdienlichen Anträgen, so dürfe ein Antrag nicht einfach
abgelehnt oder zurückgestellt werden. Vielmehr müsse der
Leistungsträger dem Antragsteller bei der konkreten Wahrnehmung seines
Rechts in dem nach den Umständen des Einzelfalles gebotenen Umfang
behilflich sein. Die Beklagte habe sich bei der Abgabe des
Antragsformulars offensichtlich keine Aufzeichnungen darüber gemacht,
dass er - der Kläger - einen mündlichen Antrag auf Leistungen nach dem
SGB II gestellt habe. Dadurch habe sich die Beklagte selbst in den
Zustand versetzt, keinerlei Nachfragen zu dem Antrag stellen zu können.
Aus dieser fehlenden Dokumentation ergebe sich, dass die Beklagte sich
in keiner Weise verfahrensmäßig eingerichtet habe. Den
Leistungsempfänger träfen die Mitwirkungspflichten gemäß §§ 60 ff SGB I.
Zu einer Leistungsversagung könne es nach § 66 Abs 1 SGB I nur kommen,
wenn der Leistungsberechtigte auf seine Mitwirkungspflichten unter
Fristsetzung konkret hingewiesen worden sei. Dies sei im vorliegenden
Fall nicht geschehen. Schließlich überdehne das LSG auch § 41 Abs 1 Satz
4 SGB II, wenn es hieraus einen Sechs-Monats-Zeitraum als generelle
Grenze für die Verwirkung von Anträgen ableite. Es handele sich bei § 41
Abs 1 Satz 4 SGB II lediglich um eine Sollvorschrift, wobei aus
vielfachen Gründen eine abweichende Bewilligungsdauer bestimmt werden
könne.
9
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sächsischen
Landessozialgerichts vom 15. Mai 2008 aufzuheben und die Berufung der
Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 11.
Juli 2007 zurückzuweisen.
10
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
11
Sie
geht mit dem LSG davon aus, dass der Antrag gemäß § 37 SGB II nicht an
eine Form gebunden sei. Allerdings sei sie ihren aus dem Antrag
entstehenden verfahrensrechtlichen Pflichten nachgekommen, indem sie den
Revisionskläger mittels Aushändigung des Antragsformulars und eines
weiteren Merkblatts auf alle Fragen und Probleme hingewiesen habe, die
der Revisionskläger im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten gemäß §§ 60 ff
SGB I anzugeben bzw zu beweisen habe. Weitergehende
verfahrensrechtliche Verpflichtungen seien aus der Vorsprache vom 9.
Juni 2005 nicht herleitbar. Es gehöre nicht zu ihren Aufgaben, angeblich
Hilfebedürftigen in existentieller Notlage "nachzulaufen", um
Leistungsansprüche festzustellen und ggf bewilligen zu können. Eine
existentielle Notlage sei schon immer dann in Frage zu stellen, wenn sie
den Notleidenden nicht veranlasse, sich so zu verhalten, dass diese
Situation möglichst schnell beseitigt werden könne. Zu berücksichtigen
sei schließlich auch, dass das Leistungsrecht des Klägers nur dann
bestehe, wenn er auch in der Lage sei, seine wirtschaftlichen
Verhältnisse - etwa durch Aufnahme einer Arbeit - zu ändern. Dieser
Nachweis sei bisher nicht erbracht worden, sodass materiell-rechtliche
Ansprüche gar nicht entstanden seien. Verfahrensrechtlicher Antrag und
materiell-rechtlicher Anspruch könnten bei Fällen wie dem vorliegenden
zeitlich auseinanderfallen.
Entscheidungsgründe
12
Die
Revision des Klägers ist begründet. Dem Kläger steht nach dem
Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG ein Anspruch auf
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß §§ 19 ff SGB II für
den Zeitraum ab dem 9. Juni 2005 zu (1.). Der Kläger hat am 9. Juni 2005
einen wirksamen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende gemäß § 37 SGB II gestellt (vgl hierzu unter 2.). Zu
Unrecht ist das LSG davon ausgegangen, dass der Anspruch des Klägers
entsprechend § 242 BGB verwirkt war, weil der Kläger nach der
Antragstellung seine Ansprüche nicht weiter verfolgt hat (hierzu unter
3.). Der Anspruch des Klägers besteht auch für den gesamten geltend
gemachten Zeitraum bis zum 2. Januar 2006 (vgl hierzu unter 4.).
13
1.
Der Kläger war ab 9. Juni 2005 Berechtigter iS der §§ 7, 19 ff SGB II.
Gemäß § 7 Abs 1 SGB II (in der hier maßgebenden Fassung des § 7 durch
das Kommunale Optionsgesetz vom 30. Juli 2004, BGBl I 2014) erhalten
Leistungen nach dem SGB II Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet
und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, 2. erwerbsfähig
sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland haben. Die Anspruchsvoraussetzungen des § 7
Abs 1 Nr 1 bis 4 SGB II lagen bei dem Kläger vor. Er war insbesondere
erwerbsfähig iS des § 8 SGB II. Ebenso war seine Hilfebedürftigkeit
gemäß § 7 Abs 1 Nr 3 iVm §§ 9, 11, 12 SGB II gegeben. Der Kläger
verfügte nach den Feststellungen des LSG über kein weiteres Einkommen iS
des § 11 SGB II als das ihm gewährte Alg nach dem SGB III. Ebenso
überstieg sein Vermögen nicht den ihm zustehenden Freibetrag von 5.550
Euro (gemäß § 12 Abs 2 Nr 1 SGB II idF des Vierten Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003, BGBl I 2954: 200
Euro je vollendetem Lebensjahr und 750 Euro gemäß § 12 Abs 2 Nr 4 SGB
II).
14
2. Der Kläger hat auch gemäß § 37 Abs 1 SGB II einen
wirksamen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
gestellt. Dies haben auch die Vorinstanzen zutreffend erkannt. Der
Antrag auf Leistungen der Grundsicherung nach § 37 SGB II ist
grundsätzlich an keine Form gebunden. Es gilt insofern der Grundsatz der
Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens (vgl § 9 des Zehnten Buches
Sozialgesetzbuch
II, 2. Aufl 2008, § 37 RdNr 20; Schoch in LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 37
RdNr 10; Müller in Hauck/Noftz, SGB II, K § 37 RdNr 11, Stand 11/2004).
Der Antrag nach dem SGB II ist eine einseitige, empfangsbedürftige
öffentlich-rechtliche Willenserklärung (vgl Link aaO; Schoch aaO; Müller
aaO), auf die - soweit sich nicht aus sozialrechtlichen Bestimmungen
Anderweitiges ergibt - die Regelungen des BGB Anwendung finden (§§ 130
ff BGB). Mit der Willenserklärung des Antragstellenden muss mithin
lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass Leistungen vom Träger der
Grundsicherung für Arbeitsuchende begehrt werden. Bei der Beurteilung,
ob und welche Leistungen beantragt werden sollen, ist dabei der
wirkliche Wille des Antragstellers zu erforschen. Nach den nicht mit
Verfahrensrügen angegriffenen und daher bindenden (§ 163
Sozialgerichtsgesetz
am 9. Juni 2005 eine Sachbearbeiterin der Beklagten aufgesucht und dort
erklärt, er erhalte Alg nach dem SGB III und strebe eine Aufstockung
durch Alg II an. Die Sachbearbeiterin habe ihm daraufhin das
Antragsformular ausgehändigt. Zutreffend hat das LSG dieses Verhalten
des Klägers als eine Antragstellung gemäß § 37 Abs 1 SGB II rechtlich
gewertet. Eine Auslegung des Verhaltens bzw der Erklärung des Klägers
musste ergeben, dass er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II begehre. Der Kläger durfte auch - was das LSG ebenfalls
zutreffend gewertet hat - davon ausgehen, dass die Beklagte sein
Begehren verstanden hat. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass die
Beklagte ihm ein Antragsformular ausgehändigt hat, in dem unter der
Rubrik "Tag der Antragstellung" mit einem Stempel der 9. Juni 2005
kenntlich gemacht wurde. Insofern durfte der Kläger bei einer
laienhaften Wertung des Verhaltens der Beklagten davon ausgehen, dass
die Beklagte seine Vorsprache als Antragstellung betrachten wolle.
15
3.
Die durch die Antragstellung vom 9. Juni 2005 bei der Beklagten geltend
gemachten Leistungsansprüche des Klägers nach dem SGB II sind auch
nicht gemäß § 242 BGB durch Verwirkung erloschen.
16
a) Es
bestehen bereits Zweifel, ob die Beklagte, wovon das LSG ausgegangen
ist, sich überhaupt auf Verwirkung berufen kann, denn die Beklagte hat
ihrerseits in dem durch den Antrag des Klägers eröffneten
Sozialrechtsverhältnis ihre eigenen Rechte und Verpflichtungen aus dem
Verwaltungsverfahrensrecht des SGB I und SGB X nur unzulänglich
ausgeschöpft. Der Antrag gemäß § 37 Abs 1 SGB II hat zwar nach der
Rechtsprechung des Senats zunächst konstitutive Wirkung für einen
Leistungsanspruch, wovon auch der Gesetzgeber des SGB II selbst ausging
(vgl BT-Drucks 15/1516 S 62 zu § 37; zur Bedeutung der Antragstellung
als Zäsur etwa für die Wertung, ob bestimmte Geldzuflüsse Einkommen oder
Vermögen darstellen, vgl das Urteil des Senats vom 30. Juli 2008, B
14/7b AS 12/07 R). Der Antrag gemäß § 37 Abs 1 SGB II hat darüber hinaus
aber auch eine verfahrensrechtliche Bedeutung, indem der potentiell
Hilfebedürftige durch die Antragstellung dem Grundsicherungsträger
signalisiert, dass er nunmehr die Einleitung eines Verwaltungsverfahrens
(§§ 8 ff SGB X iVm § 40 Abs 1 SGB II) begehrt, das grundsätzlich mit
dem Erlass eines Verwaltungsaktes (Ablehnung oder Bewilligung der
Leistungen) abgeschlossen wird. Im Rahmen dieses durch den Antrag
eröffneten Verwaltungsverfahrens treffen sowohl die Behörde wie auch den
Antragsteller bestimmte Pflichten, die im Einzelnen im SGB I und SGB X
normiert sind. So muss der Grundsicherungsträger gemäß § 16 Abs 3 SGB I
darauf hinwirken, dass der Antragsteller unverzüglich klare und
sachdienliche Anträge stellt und unvollständige Angaben ergänzt.
Weiterhin treffen den Grundsicherungsträger gemäß §§ 14 ff SGB I
weitgehende Beratungs- und Aufklärungspflichten. Dem korrespondiert die
Verpflichtung des antragstellenden Bürgers, im Verwaltungsverfahren
mitzuwirken. So kann nach § 60 SGB I von dem Antragsteller verlangt
werden, bestimmte Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des
zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer
Vorlage zuzustimmen (§ 60 Abs 1 Nr 3 SGB I; vgl zur Vorlagepflicht von
Kontounterlagen das Urteil des Senats vom 19. September 2008 - B 14 AS
45/07 R - BSGE 101, 260 = SozR 4-1200 § 60 Nr 2). Dementsprechend hätte
die Beklagte hier gemäß § 60 Abs 2 SGB I vom Kläger verlangen können,
bestimmte Vordrucke - wie etwa das Antragsformular - zu benutzen und
dieses ausgefüllt vorzulegen. § 66 SGB I sieht bei fehlender oder nicht
rechtzeitiger Mitwirkung die Sanktion der Leistungsversagung vor, wenn
die dort genannten formalen Voraussetzungen erfüllt sind. Gerade das
austarierte Regelungsinstrumentarium der Mitwirkungsvorschriften in den
§§ 60 ff SGB I macht deutlich, dass die leistungsauslösende Wirkung des
Antrags von einem Sozialleistungsträger in der Regel nicht durch die
Berufung auf Verwirkung beseitigt werden kann. Insbesondere § 66 Abs 3
SGB I zeigt, dass ein Leistungsberechtigter nach Einleitung eines
Verwaltungsverfahrens nach §§ 8 ff SGB X darauf vertrauen kann, dass er
auf Mitwirkungsversäumnisse schriftlich hingewiesen wird und zudem die
Gelegenheit erhält, das Versäumte nachzuholen. Die Beklagte wäre daher
hier nach der Antragstellung durch den Kläger vorrangig gehalten
gewesen, im Wege der §§ 60 ff SGB I die Mitwirkung des Klägers - mit
entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten - einzufordern.
17
b)
Ungeachtet dessen ist aber auch unter Zugrundelegung der aus § 242 BGB
abzuleitenden und ergänzend in das Sozialrecht übertragbaren Grundsätze
der Verwirkung (vgl grundlegend BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr
6; BSGE 59, 87, 94 = SozR 2200 § 245 Nr 4) nicht davon auszugehen, dass
der Leistungsanspruch des Klägers hier verwirkt ist. Nach § 242 BGB iVm
den Grundsätzen des Sozialrechtsverhältnisses entfällt eine
Leistungspflicht im Sozialrecht, wenn der Berechtigte die Ausübung
seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und
weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des
Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete
Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben und dem Verpflichteten
gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche die Verwirkung
auslösenden Umstände liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines
bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf
vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde
(Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut
hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und
sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet
hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung
des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl BSGE 80, 41,
43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6). Das LSG hat derartige besondere Umstände
im Verhalten des Klägers, die gerade bei dem Grundsicherungsträger eine
besondere Vertrauensgrundlage geschaffen haben könnten, nicht
festgestellt. Zu Recht weist der Kläger darauf hin, dass die Beklagte
offensichtlich keine Vorkehrungen dafür getroffen hat, wie mit
ausgegebenen und mit Datumsstempel versehenen Antragsformularen
umzugehen war. Die Beklagte hat - wovon auch das LSG offensichtlich
ausgeht - noch nicht einmal die Anschrift und Personalien derjenigen
Personen erfasst, an die sie die mit einem Datum versehenen
Antragsformulare ausgegeben hat. Insofern kann auch bei der Beklagten
kein besonderes Vertrauen dahingehend begründet worden sein, dass der
Kläger nicht wiederkommen bzw seinen Antrag nicht aufrechterhalten
werde. Ebenso ist nicht erkennbar, inwiefern der Beklagten als Träger
öffentlicher Verwaltung ein unzumutbarer Nachteil dadurch entstehen
könnte, dass dem Kläger nunmehr nachträglich noch Leistungen nach dem
SGB II zu bewilligen sind. Die Beklagte verkennt insofern, dass das SGB
II - anders als früher das Sozialhilferecht - nicht mehr von einem
"Aktualitätsgrundsatz" geprägt ist, nach dem dem Antragsteller
möglicherweise entgegengehalten werden konnte, er habe in der
Vergangenheit ja überlebt bzw gelebt, ohne dass Leistungen zur Sicherung
des Existenzminimums tatsächlich gewährt worden seien.
18
Gerade
weil die Beklagte das Verwaltungsverfahren gemäß §§ 8 ff SGB X nicht
durchgeführt hat, war es der Beklagten im übrigen auch nicht möglich,
mit dem Kläger eine Eingliederungsvereinbarung gemäß § 15 SGB II zu
schließen bzw diesen mit Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit gemäß §
16 SGB II zu konfrontieren. Dass dieses Verwaltungshandeln, zu dem sie
verpflichtet gewesen wäre, unterblieben ist, kann mithin auch nicht zu
Lasten des Klägers berücksichtigt werden.
19
4. Der Anspruch
des Klägers bestand auch für den Zeitraum ab Antragstellung bis zum 2.
Januar 2006. Zwar schreibt § 41 Abs 1 Satz 4 SGB II vor, dass die
Leistungen jeweils für sechs Monate bewilligt und monatlich im Voraus
erbracht werden sollen. Hieraus folgt jedoch nicht zwingend, dass
jeweils nach Ablauf des Sechs-Monats-Zeitraums ein neuer Antrag zu
stellen wäre bzw vorherige rechtliche Tatbestände (wie etwa eine
Antragstellung) untergehen (vgl hierzu auch zum Verhältnis von Antrags-
bzw Bewilligungszeitraum und sog Verteilzeitraum Urteil des 4. Senats
des Bundessozialgerichts
29/07 R - BSGE 101, 291 = SozR 4-4200 § 11 Nr 15). Ebenso haben die
Senate des BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass bei einer
Leistungsablehnung der streitige Zeitraum sich über den gesamten
möglichen Bewilligungszeitraum bis zum Abschluss der letzten mündlichen
Verhandlung vor dem LSG erstreckt, ohne dass insofern eine Bindung an
den Sechs-Monats-Zeitraum des § 41 Abs 1 Satz 4 SGB II eintritt (stRspr
seit BSGE 97, 265 = SozR 4-4200 § 20 Nr 3, jeweils RdNr 19; zuletzt etwa
Urteil des Senats vom 2. Juli 2009 - B 14 AS 54/08 R - RdNr 11). Es
bestehen auch keine Bedenken, dass das SG, dessen Entscheidungstenor
durch das Urteil des Senats wiederhergestellt wird, dem Kläger
Leistungen bis einschließlich 2. Januar 2006 zugesprochen hat. Soweit
aus den Akten ersichtlich, ist im Rahmen des Leistungsbezugs nach dem
SGB III für den Zeitraum vom 4. August 2005 bis 17. August 2005 eine
Sperrzeit eingetreten. Gemäß § 31 Abs 4 Nr 3 Buchst a SGB II ist der
Grundsicherungsträger insofern an die Feststellung einer Sperrzeit durch
die Agentur für Arbeit gebunden. Dementsprechend wird dem Kläger für
den Zeitraum der zweiwöchigen Sperrzeit Alg II nur in einem abgesenkten
Umfang gemäß § 31 Abs 1 SGB II bewilligt werden können. Nach § 31 Abs 6
Satz 1 2. Halbsatz SGB II tritt jedenfalls im Fall des § 31 Abs 4 Nr 3
Buchst a SGB II Absenkung und Wegfall nach dem SGB II mit dem Beginn der
Sperrzeit oder dem Erlöschen des Anspruchs nach dem SGB III ein. Eine
mögliche Absenkung der Leistungshöhe lässt aber den Anspruch des Klägers
auf Alg II für den geltend gemachten Zeitraum nicht dem Grunde nach
entfallen.
20
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
http://juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=en&nr=11361
Gruß Willi S
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