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Belastungsgrenze - keine Kostenübernahme von Zuzahlungen zu Arzneimitteln und Praxisgebühr - Verfassungsmäßigkeit BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 16.12.2010, B 8 SO 7/09 R
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Belastungsgrenze - keine Kostenübernahme von Zuzahlungen zu Arzneimitteln und Praxisgebühr - Verfassungsmäßigkeit BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 16.12.2010, B 8 SO 7/09 R
Sozialhilfe - Belastungsgrenze - keine Kostenübernahme von Zuzahlungen
zu Arzneimitteln und Praxisgebühren - kein "besonderer Anlass" iS des §
21 Abs 1a Nr 7 BSHG - keine Anwendung des § 27 Abs 2 BSHG bzw § 73 SGB
12 - Verfassungsmäßigkeit - sozialgerichtliches Verfahren -
Parteifähigkeit
Leitsätze
Sozialhilfeempfänger haben (seit
1.1.2004) keinen Anspruch auf Übernahme bzw Erstattung der von ihnen
selbst in der gesetzlichen Krankenversicherung bis zur individuellen
Belastungsgrenze zu tragenden Praxisgebühren und Zuzahlungen.
Tenor
Auf
die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts
Nordrhein-Westfalen vom 9. Juni 2008 aufgehoben. Die Sache wird zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1
Im
Streit ist ein Anspruch des Klägers auf höhere Sozialhilfe für die
Jahre 2004 (insgesamt 35,52 Euro) und 2005 (insgesamt 41,40 Euro),
insbesondere auf Übernahme der von ihm im Rahmen seiner
Krankenbehandlung geleisteten Praxisgebühr und Zuzahlungen.
2
Der
1960 geborene, HIV-infizierte Kläger bezog neben einer Rente wegen
Erwerbsminderung Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU), wobei der Beklagte im
Jahre 2004 einen Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung sowie einen
Sonderbedarf wegen auf Grund seiner Erkrankung erhöhter Heizkosten
bewilligt hatte. Im März 2004 beantragte er (für 2004) die Erstattung
von 35,52 Euro und im Dezember 2004 (vorab für das Jahr 2005) die
Übernahme von 41,40 Euro für von ihm zu leistende Zuzahlungen
(Praxisgebühr und Zuzahlungen für Medikamente). Der Beklagte lehnte die
Anträge ab (Bescheide vom 13.4.2004 und 5.1.2005; Widerspruchsbescheide
vom 31. und 23.3.2005), weil die Zuzahlungen durch die
Sozialhilferegelsätze abgegolten seien.
3
Klage und Berufung
sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts Köln vom
14.7.2006; Urteil des Landessozialgerichts
Nordrhein-Westfalen vom 9.6.2008). Zur Begründung seiner Entscheidung
hat das LSG ausgeführt, für das Begehren des Klägers fehle eine
Anspruchsgrundlage. Durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz - GMG) vom 14.11.2003
(BGBl I 2190) sei die zuvor nach § 61 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch -
Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) alter Fassung (aF) gegebene
Möglichkeit der vollständigen Befreiung von der Zuzahlungspflicht
entfallen. Sozialhilfeempfänger hätten ab 1.1.2004 - wie alle gesetzlich
Versicherten - Zuzahlungen von bis zu zwei Prozent ihres
Bruttoeinkommens zu erbringen, chronisch Kranke, zu denen auch der
Kläger gehöre, Zuzahlungen von lediglich einem Prozent ihres
Bruttoeinkommens. § 38 Abs 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in der bis
zum 31.12.2003 geltenden Fassung, nach dem die Krankenhilfe der
Sozialhilfeträger im Einzelfall den vollen Bedarf des Hilfebedürftigen
habe befriedigen müssen, sei ersatzlos gestrichen worden. Dies führe im
Ergebnis zu einer vollkommenen Gleichstellung mit Versicherten ohne
Sozialhilfebezug. Zugleich habe der Gesetzgeber auch die Verordnung zur
Durchführung des § 22 BSHG (Regelsatzverordnung) geändert;
sämtliche Zuzahlungen müssten nun aus den allgemeinen
Sozialhilferegelsätzen bestritten werden. Daher scheide auch eine
Leistungsbewilligung als Gewährung einmaliger Hilfen zum Lebensunterhalt
aus. Die Neuregelung sei nicht verfassungswidrig; das
verfassungsrechtlich zu sichernde Existenzminimum sei weiterhin gewahrt.
4
Mit
seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von Art 1 Abs 1
Grundgesetz (GG) und Art 3 Abs 1 GG iVm § 21 Abs 1a Nr 7, § 38 BSHG bzw §
48 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Zur
Begründung führt er aus, mit der Gesetzesänderung zum 1.1.2004 habe nur
die leistungsrechtliche Privilegierung von Sozialhilfeempfängern
gegenüber Personen beseitigt werden sollen, die gesetzlich
krankenversichert seien; die Zuzahlungsproblematik werde davon nicht
erfasst. Die Rechtslage seit dem 1.1.2004 verstoße gegen den
Gleichheitssatz des Art 3 GG, weil er (der Kläger) trotz seiner
chronischen Erkrankung (laufend) Zuzahlungen aufbringen müsse, die ein
gesunder Mensch nicht zu erbringen habe.
5
Der Kläger beantragt,
die
Urteile des LSG und des SG sowie die Bescheide des Beklagten vom
13.4.2004 und 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.
bzw 23.3.2005 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm
zusätzlich für das Jahr 2004 35,52 Euro sowie für das Jahr 2005 41,40
Euro zu zahlen.
6
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
8
Die
Revision ist im Sinne der Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz)
begründet. Es fehlen ausreichende tatsächliche Feststellungen des LSG,
um abschließend entscheiden zu können.
9
Gegenstand des
Verfahrens (§ 95 SGG) sind zumindest die Bescheide des Beklagten vom
13.4.2004 (betreffend das Jahr 2004) und vom 5.1.2005 (betreffend das
Jahr 2005) in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.3. bzw
23.3.2005, gegen die sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs-
und Leistungsklage (§ 54 Abs 1, 4 SGG) wehrt. Ob sich die Klage
unmittelbar auch gegen sonstige Bescheide des Beklagten über die
Bewilligung von HLU richtet, wird das LSG nach der Zurückverweisung der
Sache zu untersuchen haben. Ggf handelt es sich vorliegend in der Sache
auch um ein Überprüfungsverfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes
Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) bzw um
ein Verfahren nach § 48 SGB X, sodass die richtige Klage eine
kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage wäre.
10
Nach
dem so genannten Meistbegünstigungs- bzw Gesamtfallgrundsatz (vgl: BSGE
101, 217 ff RdNr 12 ff = SozR 4-3500 § 133a Nr 1; BSGE 100, 131 ff RdNr
10 = SozR 4-3500 § 90 Nr 3) ist davon auszugehen, dass der Kläger die
von ihm beanspruchten Leistungen (35,52 Euro für 2004 und 41,40 Euro für
2005) unter allen denkbaren rechtlichen Gesichtspunkten geltend macht.
11
Richtiger
Beklagter ist wegen des in Nordrhein-Westfalen bis 31.12.2010 geltenden
Behördenprinzips - § 70 Nr 3 SGG - (s dazu zusammenfassend Söhngen in
juris Praxiskommentar SGB XII, § 99 RdNr 18 ff
mwN) der Oberbürgermeister der Stadt Köln. Er nimmt die Aufgaben der
örtlich und sachlich zuständigen (§§ 3, 98, 97 SGB XII iVm § 1 des
nordrhein-westfälischen Landesausführungsgesetzes zum SGB XII vom
16.12.2004 - Gesetz- und Verordnungsblatt 816 - und der
gemäß § 2 dieses Gesetzes ergangenen Rechtsverordnung vom 16.12.2004 -
GVBl 816) kreisfreien Stadt Köln selbstständig, nicht als
Prozessstandschafter, wahr (vgl BSG, Urteil vom 30.9.2010 - B 10 EG 7/09
R - RdNr 20). Insoweit hat sich gegenüber der Rechtslage vor dem
1.1.2005 keine Änderung ergeben (vgl §§ 9, 96, 97 BSHG iVm §§ 1, 2 des
Landesausführungsgesetzes zum BSHG vom 15.6.1999 - GVBl 386 - iVm § 2
der dazu ergangenen Verordnung vom 15.6.1999 - GVBl 386).
12
Ein
Anspruch des Klägers lässt sich § 38 Abs 2 Satz 1 BSHG (in der Fassung
des GMG) nicht mehr entnehmen. Lediglich in § 38 Abs 2 Satz 1 der bis
Ende 2003 gültigen Fassung der Vorschrift (die diese durch das
Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter
Menschen vom 19.6.2001 - BGBl I 1046 - erhalten hat) war unmittelbar
vorgesehen, dass der Sozialhilfeträger finanzielle Eigenleistungen der
Leistungsberechtigten in voller Höhe zu übernehmen hatte. Diese Regelung
ist ab 1.1.2004 ersatzlos entfallen; auch das SGB XII enthält (für die
Zeit ab 1.1.2005) keine entsprechende Regelung. Ein Anspruch des Klägers
auf Übernahme der finanziellen Eigenleistungen lässt sich insoweit auch
nicht allgemein aus § 37 BSHG (bis 31.12.2004) bzw § 48 SGB XII (ab
1.1.2005) herleiten. Diese Vorschriften räumen dem Leistungsberechtigten
einen Anspruch auf Hilfe bei Krankheit nur entsprechend dem SGB V, also
auch mit den dort vorgesehenen Eigenleistungen, ein (§ 38 Abs 1 Satz 1
BSHG, § 52 Abs 1 Satz 1 SGB XII).
13
Ein Anspruch des Klägers
lässt sich ferner nicht aus § 27 Abs 2 Satz 1 BSHG (bis 31.12.2004) bzw §
73 Satz 1 SGB XII (ab 1.1.2005) herleiten. Hiernach können Leistungen
in besonderen/sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den
Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Diese "Öffnungsklauseln"
ermöglichen es, in Fällen, die vom (übrigen) Sozialleistungssystem nicht
erfasst werden, Hilfen zu erbringen und damit einen "Sonderbedarf" zu
decken (vgl nur: Böttiger in jurisPK-SGB XII, § 73 RdNr 5 ff; Grube in
Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl 2010, § 73 SGB XII RdNr 4; Berlit in
Lehr- und Praxiskommentar SGB XII, 8. Aufl 2008, § 73 SGB XII RdNr 4; H.
Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl 2010, § 73
SGB XII RdNr 1). Von den Vorschriften betroffen werden nur atypische
("besondere" bzw "sonstige") Lebenslagen, die nicht bereits durch andere
Vorschriften des BSHG erfasst sind (BSGE 97, 242 ff RdNr 22 = SozR
4-4200 § 20 Nr 1; SozR 4-3500 § 21 Nr 1 RdNr 24). Da
Sozialhilfeempfänger ab 1.1.2004 sämtliche Zuzahlungen aus den
allgemeinen Regelsätzen zu bestreiten haben (dazu unten), bleibt für
eine Anwendung des § 27 Abs 2 BSHG/§ 73 SGB XII kein Raum. Dies gilt
auch unter Beachtung des Urteils des 14. Senats des BSG vom 19.8.2010 (B
14 AS 13/10 R), das eine atypische Bedarfslage für einen
HIV-infizierten Alg-II-Empfänger bei erhöhtem Hygienebedarf aus
verfassungsrechtlichen Gründen wegen Fehlens einer Regelung zur Erhöhung
der Regelleistung im SGB II angenommen hat. Zum einen geht es, soweit
es die vom Kläger erbrachten Eigenleistungen betrifft, nicht um einen
Hygienebedarf; zum anderen wäre für die Anwendung des § 27 Abs 2 Satz 1
BSHG/§ 73 SGB XII für Sozialhilfeempfänger kein Raum. Hier ist ggf der
Regelsatz gemäß § 22 Abs 1 Satz 2 BSHG/§ 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII zu
erhöhen, weil der Gesetzgeber die Zuzahlungen zu Leistungen der GKV
ausdrücklich der HLU zugeordnet hat (dazu unten).
14
Eine
solche Erhöhung des Regelsatzes allein wegen der Zuzahlungen ist jedoch
ebenso wenig gerechtfertigt wie bis 31.12.2004 die Anwendung des § 21
Abs 1a Nr 7 BSHG - in das SGB XII (ab 1.1.2005) ist eine entsprechende
Regelung ohnedies nicht übernommen worden. Praxisgebühren und sonstige
Zuzahlungen sind kein "besonderer Anlass" im Sinne dieser Vorschrift.
Vielmehr werden diese seit 1.1.2004 mit dem normalen Regelsatz im Rahmen
der HLU abgegolten.
15
§ 12 Abs 1 BSHG (bis 31.12.2004) bzw §
27 Abs 1 Satz 1 SGB XII (ab 1.1.2005) bestimmen insoweit, dass der
notwendige Lebensunterhalt insbesondere Ernährung, Unterkunft, Kleidung,
Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des
täglichen Lebens umfasst. Nach § 22 Abs 1 Satz 1 BSHG (bis 31.12.2004), §
28 Abs 1 Satz 1 SGB XII (ab 1.1.2005) wird der gesamte regelmäßige
Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts außerhalb von Einrichtungen nach
Regelsätzen erbracht. Die Regelsätze werden so bemessen, dass der
Bedarf durch sie gedeckt werden kann (§ 22 Abs 3 Satz 1 BSHG bzw § 28
Abs 3 Satz 1 SGB XII). Mit der Streichung des § 38 Abs 2 BSHG aF (Art 28
Nr 4 Buchst c GMG) hat der Gesetzgeber des GMG zugleich bestimmt, dass
der in der RSV näher umschriebene Regelsatz nunmehr auch Leistungen für
Kosten bei Krankheit, bei vorbeugender und bei sonstiger Hilfe umfasst,
soweit sie nicht nach den §§ 36 bis 38 des Gesetzes übernommen werden
(Art 29 GMG). Durch die Deckung der Zuzahlungen aus dem Regelsatz (vgl
BT-Drucks 15/1525, S 167 zu Art 29) sollten Sozialhilfeempfänger bei den
Zuzahlungen den Versicherten in der GKV gleichgestellt werden (vgl
BT-Drucks 15/1525, S 167 zu Art 28 Nr 4 Buchst c). Zutreffend hat das
LSG hierzu im angefochtenen Urteil ausgeführt, dass die nach früherem
Recht (§ 61 SGB V aF) bestehende Möglichkeit der vollständigen Befreiung
von der Zuzahlungspflicht durch das GMG vom 14.11.2003 (BGBl I 2190)
als Folge der Änderung des Konzepts des SGB V mit Wirkung zum 1.1.2004
abgeschafft worden ist. Seit dem 1.1.2004 haben Sozialhilfeempfänger wie
alle gesetzlich Versicherten Zuzahlungen von bis zu 2 vH ihres
Bruttoeinkommens, chronisch Kranke, zu denen der Kläger zählen dürfte,
bis 1 vH ihres Bruttoeinkommens zu erbringen (Belastungsgrenze, § 62 Abs
1 Satz 2 SGB V). Diese sind mithin weder ein besonderer Anlass iS des §
21 Abs 1a Nr 7 BSHG, noch rechtfertigen sie alleine die Erhöhung des
Regelsatzes.
16
Dieses Konzept ist nicht verfassungswidrig.
Wie der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 22.4.2008
(BSGE 100, 221 ff = SozR 4-2500 § 62 Nr 6) zur Verfassungsmäßigkeit der
durch das GMG geänderten §§ 61, 62 SGB V ausgeführt hat, ist
Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Prüfung die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur grundsätzlichen
Verfassungsmäßigkeit von Zuzahlungsregelungen in der GKV. Danach ist es
dem Gesetzgeber prinzipiell erlaubt, den Versicherten über den Beitrag
hinaus zur Entlastung der Krankenkassen und zur Stärkung des
Kostenbewusstseins in Form von Zuzahlungen zu bestimmten Leistungen zu
beteiligen, jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell zugemutet
werden kann (BVerfGE 115, 25, 46 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 27;
BVerfG, Beschluss vom 7.3.1994 - 1 BvR 2158/93 -, NJW 1994, 3007 ff;
BVerfGE 70, 1 ff = SozR 2200 § 376d Nr 1).
17
Die ersatzlose
Streichung der vor dem 1.1.2004 nach § 61 SGB V aF gegebenen Möglichkeit
der vollständigen Befreiung von der Zuzahlungspflicht verstößt, wie der
1. Senat zu Recht ausgeführt hat, ebenso wenig gegen das
Vertrauensschutzprinzip (Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG) wie die
sozialhilferechtliche "Verlagerung" von Zuzahlungen in den Regelsatz.
Eine echte Rückwirkung (bzw Rückbewirkung von Rechtsfolgen) liegt
ohnedies nicht vor. Sie ist nur anzunehmen, wenn ein Gesetz nachträglich
ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände
eingreift, oder wenn der Beginn seiner zeitlichen Anwendung auf einen
Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm
durch ihre Verkündung rechtlich existent, das heißt gültig geworden ist
(vgl BVerfG, Beschluss vom 21.7.2010 - 1 BvL 11/06 ua -, Juris RdNr 71
mwN). Die Einbeziehung von Zuzahlungen im Gesundheitsbereich in den
Regelsatz erfasste keine in der Vergangenheit bereits abgewickelten
Tatbestände.
18
Sie beinhaltet auch keine unzulässige unechte
Rückwirkung. Eine solche Rückwirkung (bzw tatbestandliche
Rückanknüpfung) liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht
abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft
einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich
entwertet (vgl: BVerfGE 69, 272, 309 = SozR 2200 § 165 Nr 81 S 132;
BVerfGE 72, 141, 154 = SozR 2200 § 1265 Nr 78 S 260; BVerfGE 101, 239,
263; 123, 186, 257), oder wenn die Rechtsfolgen einer Norm zwar erst
nach ihrer Verkündung eintreten, deren Tatbestand aber Sachverhalte
erfasst, die bereits vor der Verkündung "ins Werk gesetzt" worden sind
(vgl: BVerfGE 72, 200, 242; 97, 67, 79; 105, 17, 37 f; 109, 133, 181).
Die Einbeziehung von Zuzahlungen im Gesundheitsbereich in den Regelsatz
bewirkt keine solche unechte Rückwirkung oder tatbestandliche
Rückanknüpfung. Der Anspruch der Sozialhilfebezieher, von Zuzahlungen
befreit zu sein, hatte durch die Rechtsordnung keine Ausgestaltung
erfahren, die über die jeweils aktuelle Bedürftigkeit hinaus eine
verfestigte Rechtsposition begründete. Sozialhilfe ist insoweit
strukturell anerkanntermaßen keine rentenähnliche Leistung (vgl nur
Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl 2010, Einleitung RdNr 81 ff
mwN). Geschützt ist mithin nur das (aktuelle) Existenzminimum als
solches, nicht seine konkrete Ausgestaltung.
19
Selbst wenn
man dies anders sähe, wäre mit der Gesetzesänderung keine unzulässige
unechte Rückwirkung verbunden. Vielmehr ist eine solche grundsätzlich
unter Berücksichtigung der Grundrechte des Klägers zulässig (vgl das
Senatsurteil vom 16.12.2010 - B 8 SO 9/09 R - mwN). Denn die Verfassung
gewährt keinen generellen Schutz vor einer nachteiligen Veränderung der
geltenden Rechtslage (vgl: BVerfGE 38, 61, 83; 105, 17, 40). Eine
schützenswerte Rechtsposition liegt daher nicht schon in der
voraussichtlichen Einschlägigkeit bestimmter Vorschriften in der Zukunft
(BVerfG, Beschluss vom 7.12.2010 - 1 BvR 2628/07 -, SGb 2011, 90 =
Juris RdNr 49). Die Interessen und Rechte des Klägers sind ausreichend
gewahrt.
20
Der Gesetzgeber hat jedenfalls in Fällen eines
unabweisbaren, anders nicht abdeckbaren Bedarfs an Leistungen der GKV,
die von Zuzahlungen abhängen, sichergestellt, dass die
Leistungsberechtigten den für Zuzahlungen nach § 61 SGB V erforderlichen
Betrag darlehensweise erhalten (§ 37 SGB XII ab 1.1.2005). Das Darlehen
ist unverzinslich und in monatlichen Raten zu tilgen. Das bewirkt, dass
bei kostenaufwendigeren Leistungen der GKV, bei denen bereits zu Beginn
eines Jahres die gesamte zumutbare Zuzahlung zu leisten ist, die
Zuzahlungslast durch das Darlehen auf zwölf Monate verteilt werden kann.
§ 37 SGB XII hat zwar im BSHG keine unmittelbare Vorgängervorschrift;
jedoch liegt das an dem anderen Konzept des BSHG mit weitgehenden
Einmalleistungen (Becker in jurisPK-SGB XII, § 37 RdNr 7), die ohnedies
neben dem pauschalierten Regelsatz im Einzelfall das Existenzminimum
über den Regelsatz hinaus sicherten.
21
Durch die Zuzahlung
wird nicht in das verfassungsrechtlich gesicherte Existenzminimum des
Klägers eingegriffen. Bei einer konkreten Belastung des Klägers - auf
das Jahr bezogen - mit einem Betrag von 35,52 Euro (= einer monatlichen
Belastung entsprechend 2,96 Euro) bzw 41,40 Euro (= monatlich 3,45 Euro)
ist nicht ersichtlich, dass dieses Existenzminimum nicht mehr
gewährleistet wäre. So bezieht sich die Kritik des Klägers auch konkret
darauf, dass sich "das Sozialhilfeniveau" inzwischen "im unteren
Grenzbereich des Menschenwürdegehalts" bewege und deswegen durch die neu
geschaffenen Regelungen eine Verletzung des Art 1 GG vorliege.
22
In
welcher Mindesthöhe das sozialrechtlich zu gewährende Existenzminimum
verfassungsrechtlich gesichert ist, hat das BVerfG aber zu Recht nicht
festgelegt, sondern in der Entscheidung vom 9.2.2010 (BVerfGE 125, 175
ff) ausdrücklich eine unzureichende Absicherung durch das einfache Recht
verneint; denn es ist nach der Konzeption des Art 1 Abs 1 GG und Art 20
Abs 1 GG Sache des Gesetzgebers, die Höhe des verfassungsrechtlich
gesicherten Existenzminimums auszugestalten (zu den unterschiedlichen in
Rechtsprechung und Literatur vertretenen Standpunkten zur Definition
des Existenzminimums und zur Festlegung von Untergrenzen hierfür vgl
BSGE 100, 221 ff RdNr 34 ff = SozR 4-2500 § 62 Nr 6). Wie das BVerfG im
Urteil vom 9.2.2010 zur Verfassungsgemäßheit der Gewährleistung des
verfassungsrechtlich gebotenen Existenzminimums durch Regelleistungen ab
1.1.2005 zu § 20 Abs 2 SGB II, die hinsichtlich ihrer Höhe den
Regelsätzen nach § 28 SGB XII entsprechen, entschieden hat (BVerfGE,
aaO, S 232 f), hat sich der Gesetzgeber zur Bestimmung der
Regelleistungen jedenfalls auf ein Verfahren gestützt, das im Grundsatz
geeignet ist, die notwendigen Leistungen realitätsgerecht zu bemessen. §
28 Abs 3 SGB XII und § 2 RSV bilden die Grundlage für diese Bemessung.
Die Bundesregierung hat das Verfahren der Regelsatzbemessung sogar als
Referenzsystem für die Bestimmung der Regelleistung bezeichnet
(BR-Drucks 635/06, S 5). Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die
Umstellung der Bedarfsdeckung von Einzel- und Sonderbedarfen des BSHG
auf die Regelsatzgewährung iS des § 28 Abs 1 SGB XII bestehen hiernach
nicht.
23
Bei der Ordnung von Massenerscheinungen darf der
Gesetzgeber typisierende und pauschalierende Regelungen treffen (vgl:
BVerfGE 87, 234, 255 f = SozR 3-4100 § 137 Nr 3 S 29 f; BVerfGE 100, 59,
90 = SozR 3-8570 § 6 Nr 3 S 28). Dies gilt auch für Leistungen zur
Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl BVerfGE, aaO, S
253). Das BVerfG hat damit die konzeptionell bereits 2004 vorgenommene
Einbeziehung der Zuzahlungen in die Regelleistung unbeanstandet gelassen
und dabei festgestellt, dass die gesetzlich festgesetzten
Regelleistungsbeträge nicht evident unzureichend sind; es hat den
Gesetzgeber daher nicht unmittelbar von Verfassungs wegen für
verpflichtet gehalten, höhere Leistungen festzusetzen (BVerfGE, aaO, S
256). Vielmehr muss er (lediglich) ein Verfahren zur realitäts- und
bedarfsgerechten Ermittlung der zur Sicherung eines menschenwürdigen
Existenzminimums notwendigen Leistungen entsprechend den aufgezeigten
verfassungsrechtlichen Vorgaben durchführen und dessen Ergebnis im
Gesetz als Leistungsanspruch verankern. Dies hat in einem
verfassungsgemäßen Verfahren bis zum 31.12.2010 zu geschehen. Bis zu
diesem Zeitpunkt bleiben die verfassungswidrigen Normen jedoch weiterhin
anwendbar (BVerfGE, aaO, S 256). Dies gilt auch für die niedrigeren
Regelleistungen des BSHG, weil diese konzeptionell den gleichen
Überlegungen folgen, und lediglich mit Rücksicht darauf geringer waren,
dass die ab 1.1.2005 maßgebenden Regelsätze frühere Einmalleistungen
einbezogen haben (Gutzler in jurisPK-SGB XII, § 27 RdNr 11, sowie § 28
RdNr 34 ff, jeweils mwN).
24
Auch der vom Kläger behauptete
Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG liegt nicht vor. Der allgemeine
Gleichheitssatz gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und
wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl: BVerfGE 120, 1, 29;
122, 210, 230). Er gilt für ungleiche Belastungen wie für ungleiche
Begünstigungen (vgl: BVerfGE 116, 164, 180; 122, 210, 230). Aus dem
allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und
Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber,
die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengeren Bindung an
Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (vgl: BVerfGE 116, 164, 180;
117, 1, 30; 120, 1, 29; 123, 1, 19). Für die Anforderungen an
Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen kommt es
wesentlich darauf an, in welchem Maß sich die Ungleichbehandlung von
Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter
Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl: BVerfGE 105, 73, 110 f; 112,
164, 174 = SozR 4-7410 § 32 Nr 1 RdNr 14; BVerfGE 122, 210, 230).
Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der
Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, lassen sich nicht abstrakt
und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen
unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen (vgl: BVerfGE
112, 268, 279; 122, 210, 230).
25
Die vom Kläger kritisierten
Gesetzesänderungen haben zur Folge, dass den Sozialhilfeempfänger die
Zuzahlungspflicht nunmehr gleichermaßen trifft wie jeden in der
gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten; damit hat der Gesetzgeber
lediglich ein Privileg der Sozialhilfeempfänger abgebaut. Denn mit der
Änderung der Zuzahlungsregelungen zielte er darauf ab, die
Belastungsgerechtigkeit dadurch zu verbessern, dass grundsätzlich alle
Beteiligten in die Zuzahlungsregelungen einbezogen werden sollten
(BT-Drucks 15/1525, S 71). Der vom Kläger insbesondere angeführten
Tatsache, er unterscheide sich von anderen Sozialhilfeempfängern
dadurch, dass er infolge chronischer Erkrankung auf dauernde
Medikamenteneinnahme angewiesen sei, ist dadurch Rechnung getragen, dass
bei chronisch Kranken Zuzahlungen auf bis zu 1 vH ihres
Bruttoeinkommens begrenzt sind, während nicht chronisch Kranke bis zu 2
vH ihres Bruttoeinkommens aufwenden müssen.
26
Anders als im
SGB II (vgl § 20 SGB II), zu dem das Urteil des BVerfG vom 9.2.2010
ergangen ist, ist die Höhe der auf Landesebene festgesetzten Regelsätze
für den Anwendungsbereich des BSHG und des SGB XII zwar in Verordnungen
(§ 22 Abs 2 BSHG bzw § 28 Abs 2 SGB XII iVm der RSV) geregelt und damit
im Hinblick auf die Normhierarchie theoretisch vom Gericht auch
korrigierbar, soweit die Regelsätze nicht ermächtigungskonform sind.
Eine solche Korrektur kann gleichwohl nicht vorgenommen werden, weil das
BVerfG im Urteil vom 9.2.2010 (aaO) die auf die Regelsatzbemessung des
SGB XII rekurrierende formell gesetzliche Regelung des SGB II bis Ende
2010 akzeptiert und ausdrücklich für die Bemessung der Regelbedarfe den
Erlass eines Gesetzes gefordert hat.
27
Das BVerfG hat in
dieser Entscheidung Parallelen zum BSHG und zum SGB XII gezogen und für
den Bereich der Sozialhilfe betont, trotz des in § 3 Abs 1 Satz 1 BSHG
(jetzt § 9 SGB XII) niedergelegten Individualisierungsgrundsatzes,
wonach sich Art, Form und Maß der Sozialhilfe nach der Besonderheit des
Einzelfalls, vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der Art
seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen zu richten hatten, seien
nach § 22 Abs 1 Satz 1 BSHG laufende Leistungen zum Lebensunterhalt
grundsätzlich "nach Regelsätzen" gewährt worden, die von den
Landesbehörden nach bundesgesetzlichen Vorgaben und nach einer RSV des
zuständigen Bundesministeriums festzusetzen gewesen seien (BVerfGE, aaO,
S 187). Die Regelsätze seien zunächst nach dem sog Warenkorbmodell,
später nach dem Statistikmodell ermittelt worden; letzteres sei mit
Wirkung ab dem 1.8.1996 in § 22 Abs 3 BSHG (in der Fassung des Art 1 des
Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts vom 23.7.1996 - BGBl I 1088),
dem der heutige § 28 Abs 3 SGB XII im Wesentlichen entspreche,
gesetzlich verankert worden (BVerfGE, aaO, S 188). Damit hat das BVerfG
zum Ausdruck gebracht, dass es auch das Regelsatzsystem des BSHG/SGB XII
zur Grundlage seiner Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit gemacht hat
(vgl BVerfGE, aaO, S 192 ff); gleichzeitig hat es die Festsetzung der
Regelleistung/des Regelsatzes ausdrücklich dem Gesetzgeber auferlegt
(BVerfGE, aaO, S 255 ff).
28
Wie sich die Leistung der HLU im
Einzelnen unter Berücksichtigung von Einkommen zusammensetzt, vermag der
Senat anhand der Feststellungen des LSG allerdings nicht zu
entscheiden. Entsprechende Feststellungen, die ggf auch einen
Hygienemehrbedarf des Klägers aufgrund seiner HIV-Infektion (vgl BSG,
Urteil vom 19.8.2010 - B 14 AS 13/10 R) zu berücksichtigen haben, wird
das LSG nachzuholen haben. Höhere Leistungen verlangen auch eine Prüfung
der Leistungsvoraussetzungen dem Grunde nach (§ 19 Abs 1 SGB XII) unter
Beachtung des § 21 SGB XII.
29
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
http://juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=en&nr=11939
Gruß Willi S
zu Arzneimitteln und Praxisgebühren - kein "besonderer Anlass" iS des §
21 Abs 1a Nr 7 BSHG - keine Anwendung des § 27 Abs 2 BSHG bzw § 73 SGB
12 - Verfassungsmäßigkeit - sozialgerichtliches Verfahren -
Parteifähigkeit
Leitsätze
Sozialhilfeempfänger haben (seit
1.1.2004) keinen Anspruch auf Übernahme bzw Erstattung der von ihnen
selbst in der gesetzlichen Krankenversicherung bis zur individuellen
Belastungsgrenze zu tragenden Praxisgebühren und Zuzahlungen.
Tenor
Auf
die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts
Nordrhein-Westfalen vom 9. Juni 2008 aufgehoben. Die Sache wird zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1
Im
Streit ist ein Anspruch des Klägers auf höhere Sozialhilfe für die
Jahre 2004 (insgesamt 35,52 Euro) und 2005 (insgesamt 41,40 Euro),
insbesondere auf Übernahme der von ihm im Rahmen seiner
Krankenbehandlung geleisteten Praxisgebühr und Zuzahlungen.
2
Der
1960 geborene, HIV-infizierte Kläger bezog neben einer Rente wegen
Erwerbsminderung Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU), wobei der Beklagte im
Jahre 2004 einen Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung sowie einen
Sonderbedarf wegen auf Grund seiner Erkrankung erhöhter Heizkosten
bewilligt hatte. Im März 2004 beantragte er (für 2004) die Erstattung
von 35,52 Euro und im Dezember 2004 (vorab für das Jahr 2005) die
Übernahme von 41,40 Euro für von ihm zu leistende Zuzahlungen
(Praxisgebühr und Zuzahlungen für Medikamente). Der Beklagte lehnte die
Anträge ab (Bescheide vom 13.4.2004 und 5.1.2005; Widerspruchsbescheide
vom 31. und 23.3.2005), weil die Zuzahlungen durch die
Sozialhilferegelsätze abgegolten seien.
3
Klage und Berufung
sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts
14.7.2006; Urteil des Landessozialgerichts
Nordrhein-Westfalen vom 9.6.2008). Zur Begründung seiner Entscheidung
hat das LSG ausgeführt, für das Begehren des Klägers fehle eine
Anspruchsgrundlage. Durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz - GMG) vom 14.11.2003
(BGBl I 2190) sei die zuvor nach § 61 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch -
Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) alter Fassung (aF) gegebene
Möglichkeit der vollständigen Befreiung von der Zuzahlungspflicht
entfallen. Sozialhilfeempfänger hätten ab 1.1.2004 - wie alle gesetzlich
Versicherten - Zuzahlungen von bis zu zwei Prozent ihres
Bruttoeinkommens zu erbringen, chronisch Kranke, zu denen auch der
Kläger gehöre, Zuzahlungen von lediglich einem Prozent ihres
Bruttoeinkommens. § 38 Abs 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in der bis
zum 31.12.2003 geltenden Fassung, nach dem die Krankenhilfe der
Sozialhilfeträger im Einzelfall den vollen Bedarf des Hilfebedürftigen
habe befriedigen müssen, sei ersatzlos gestrichen worden. Dies führe im
Ergebnis zu einer vollkommenen Gleichstellung mit Versicherten ohne
Sozialhilfebezug. Zugleich habe der Gesetzgeber auch die Verordnung zur
Durchführung des § 22 BSHG (Regelsatzverordnung
sämtliche Zuzahlungen müssten nun aus den allgemeinen
Sozialhilferegelsätzen bestritten werden. Daher scheide auch eine
Leistungsbewilligung als Gewährung einmaliger Hilfen zum Lebensunterhalt
aus. Die Neuregelung sei nicht verfassungswidrig; das
verfassungsrechtlich zu sichernde Existenzminimum sei weiterhin gewahrt.
4
Mit
seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von Art 1 Abs 1
Grundgesetz (GG) und Art 3 Abs 1 GG iVm § 21 Abs 1a Nr 7, § 38 BSHG bzw §
48 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Zur
Begründung führt er aus, mit der Gesetzesänderung zum 1.1.2004 habe nur
die leistungsrechtliche Privilegierung von Sozialhilfeempfängern
gegenüber Personen beseitigt werden sollen, die gesetzlich
krankenversichert seien; die Zuzahlungsproblematik werde davon nicht
erfasst. Die Rechtslage seit dem 1.1.2004 verstoße gegen den
Gleichheitssatz des Art 3 GG, weil er (der Kläger) trotz seiner
chronischen Erkrankung (laufend) Zuzahlungen aufbringen müsse, die ein
gesunder Mensch nicht zu erbringen habe.
5
Der Kläger beantragt,
die
Urteile des LSG und des SG sowie die Bescheide des Beklagten vom
13.4.2004 und 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.
bzw 23.3.2005 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm
zusätzlich für das Jahr 2004 35,52 Euro sowie für das Jahr 2005 41,40
Euro zu zahlen.
6
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
8
Die
Revision ist im Sinne der Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz
begründet. Es fehlen ausreichende tatsächliche Feststellungen des LSG,
um abschließend entscheiden zu können.
9
Gegenstand des
Verfahrens (§ 95 SGG) sind zumindest die Bescheide des Beklagten vom
13.4.2004 (betreffend das Jahr 2004) und vom 5.1.2005 (betreffend das
Jahr 2005) in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.3. bzw
23.3.2005, gegen die sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs-
und Leistungsklage (§ 54 Abs 1, 4 SGG) wehrt. Ob sich die Klage
unmittelbar auch gegen sonstige Bescheide des Beklagten über die
Bewilligung von HLU richtet, wird das LSG nach der Zurückverweisung der
Sache zu untersuchen haben. Ggf handelt es sich vorliegend in der Sache
auch um ein Überprüfungsverfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes
Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) bzw um
ein Verfahren nach § 48 SGB X, sodass die richtige Klage eine
kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage wäre.
10
Nach
dem so genannten Meistbegünstigungs- bzw Gesamtfallgrundsatz (vgl: BSGE
101, 217 ff RdNr 12 ff = SozR 4-3500 § 133a Nr 1; BSGE 100, 131 ff RdNr
10 = SozR 4-3500 § 90 Nr 3) ist davon auszugehen, dass der Kläger die
von ihm beanspruchten Leistungen (35,52 Euro für 2004 und 41,40 Euro für
2005) unter allen denkbaren rechtlichen Gesichtspunkten geltend macht.
11
Richtiger
Beklagter ist wegen des in Nordrhein-Westfalen bis 31.12.2010 geltenden
Behördenprinzips - § 70 Nr 3 SGG - (s dazu zusammenfassend Söhngen in
juris Praxiskommentar SGB XII
mwN) der Oberbürgermeister der Stadt Köln. Er nimmt die Aufgaben der
örtlich und sachlich zuständigen (§§ 3, 98, 97 SGB XII iVm § 1 des
nordrhein-westfälischen Landesausführungsgesetzes zum SGB XII vom
16.12.2004 - Gesetz- und Verordnungsblatt
gemäß § 2 dieses Gesetzes ergangenen Rechtsverordnung vom 16.12.2004 -
GVBl 816) kreisfreien Stadt Köln selbstständig, nicht als
Prozessstandschafter, wahr (vgl BSG, Urteil vom 30.9.2010 - B 10 EG 7/09
R - RdNr 20). Insoweit hat sich gegenüber der Rechtslage vor dem
1.1.2005 keine Änderung ergeben (vgl §§ 9, 96, 97 BSHG iVm §§ 1, 2 des
Landesausführungsgesetzes zum BSHG vom 15.6.1999 - GVBl 386 - iVm § 2
der dazu ergangenen Verordnung vom 15.6.1999 - GVBl 386).
12
Ein
Anspruch des Klägers lässt sich § 38 Abs 2 Satz 1 BSHG (in der Fassung
des GMG) nicht mehr entnehmen. Lediglich in § 38 Abs 2 Satz 1 der bis
Ende 2003 gültigen Fassung der Vorschrift (die diese durch das
Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter
Menschen vom 19.6.2001 - BGBl I 1046 - erhalten hat) war unmittelbar
vorgesehen, dass der Sozialhilfeträger finanzielle Eigenleistungen der
Leistungsberechtigten in voller Höhe zu übernehmen hatte. Diese Regelung
ist ab 1.1.2004 ersatzlos entfallen; auch das SGB XII enthält (für die
Zeit ab 1.1.2005) keine entsprechende Regelung. Ein Anspruch des Klägers
auf Übernahme der finanziellen Eigenleistungen lässt sich insoweit auch
nicht allgemein aus § 37 BSHG (bis 31.12.2004) bzw § 48 SGB XII (ab
1.1.2005) herleiten. Diese Vorschriften räumen dem Leistungsberechtigten
einen Anspruch auf Hilfe bei Krankheit nur entsprechend dem SGB V, also
auch mit den dort vorgesehenen Eigenleistungen, ein (§ 38 Abs 1 Satz 1
BSHG, § 52 Abs 1 Satz 1 SGB XII).
13
Ein Anspruch des Klägers
lässt sich ferner nicht aus § 27 Abs 2 Satz 1 BSHG (bis 31.12.2004) bzw §
73 Satz 1 SGB XII (ab 1.1.2005) herleiten. Hiernach können Leistungen
in besonderen/sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den
Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Diese "Öffnungsklauseln"
ermöglichen es, in Fällen, die vom (übrigen) Sozialleistungssystem nicht
erfasst werden, Hilfen zu erbringen und damit einen "Sonderbedarf" zu
decken (vgl nur: Böttiger in jurisPK-SGB XII, § 73 RdNr 5 ff; Grube in
Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl 2010, § 73 SGB XII RdNr 4; Berlit in
Lehr- und Praxiskommentar SGB XII, 8. Aufl 2008, § 73 SGB XII RdNr 4; H.
Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl 2010, § 73
SGB XII RdNr 1). Von den Vorschriften betroffen werden nur atypische
("besondere" bzw "sonstige") Lebenslagen, die nicht bereits durch andere
Vorschriften des BSHG erfasst sind (BSGE 97, 242 ff RdNr 22 = SozR
4-4200 § 20 Nr 1; SozR 4-3500 § 21 Nr 1 RdNr 24). Da
Sozialhilfeempfänger ab 1.1.2004 sämtliche Zuzahlungen aus den
allgemeinen Regelsätzen zu bestreiten haben (dazu unten), bleibt für
eine Anwendung des § 27 Abs 2 BSHG/§ 73 SGB XII kein Raum. Dies gilt
auch unter Beachtung des Urteils des 14. Senats des BSG vom 19.8.2010 (B
14 AS 13/10 R), das eine atypische Bedarfslage für einen
HIV-infizierten Alg-II-Empfänger bei erhöhtem Hygienebedarf aus
verfassungsrechtlichen Gründen wegen Fehlens einer Regelung zur Erhöhung
der Regelleistung im SGB II angenommen hat. Zum einen geht es, soweit
es die vom Kläger erbrachten Eigenleistungen betrifft, nicht um einen
Hygienebedarf; zum anderen wäre für die Anwendung des § 27 Abs 2 Satz 1
BSHG/§ 73 SGB XII für Sozialhilfeempfänger kein Raum. Hier ist ggf der
Regelsatz gemäß § 22 Abs 1 Satz 2 BSHG/§ 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII zu
erhöhen, weil der Gesetzgeber die Zuzahlungen zu Leistungen der GKV
ausdrücklich der HLU zugeordnet hat (dazu unten).
14
Eine
solche Erhöhung des Regelsatzes allein wegen der Zuzahlungen ist jedoch
ebenso wenig gerechtfertigt wie bis 31.12.2004 die Anwendung des § 21
Abs 1a Nr 7 BSHG - in das SGB XII (ab 1.1.2005) ist eine entsprechende
Regelung ohnedies nicht übernommen worden. Praxisgebühren und sonstige
Zuzahlungen sind kein "besonderer Anlass" im Sinne dieser Vorschrift.
Vielmehr werden diese seit 1.1.2004 mit dem normalen Regelsatz im Rahmen
der HLU abgegolten.
15
§ 12 Abs 1 BSHG (bis 31.12.2004) bzw §
27 Abs 1 Satz 1 SGB XII (ab 1.1.2005) bestimmen insoweit, dass der
notwendige Lebensunterhalt insbesondere Ernährung, Unterkunft, Kleidung,
Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des
täglichen Lebens umfasst. Nach § 22 Abs 1 Satz 1 BSHG (bis 31.12.2004), §
28 Abs 1 Satz 1 SGB XII (ab 1.1.2005) wird der gesamte regelmäßige
Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts außerhalb von Einrichtungen nach
Regelsätzen erbracht. Die Regelsätze werden so bemessen, dass der
Bedarf durch sie gedeckt werden kann (§ 22 Abs 3 Satz 1 BSHG bzw § 28
Abs 3 Satz 1 SGB XII). Mit der Streichung des § 38 Abs 2 BSHG aF (Art 28
Nr 4 Buchst c GMG) hat der Gesetzgeber des GMG zugleich bestimmt, dass
der in der RSV näher umschriebene Regelsatz nunmehr auch Leistungen für
Kosten bei Krankheit, bei vorbeugender und bei sonstiger Hilfe umfasst,
soweit sie nicht nach den §§ 36 bis 38 des Gesetzes übernommen werden
(Art 29 GMG). Durch die Deckung der Zuzahlungen aus dem Regelsatz (vgl
BT-Drucks 15/1525, S 167 zu Art 29) sollten Sozialhilfeempfänger bei den
Zuzahlungen den Versicherten in der GKV gleichgestellt werden (vgl
BT-Drucks 15/1525, S 167 zu Art 28 Nr 4 Buchst c). Zutreffend hat das
LSG hierzu im angefochtenen Urteil ausgeführt, dass die nach früherem
Recht (§ 61 SGB V aF) bestehende Möglichkeit der vollständigen Befreiung
von der Zuzahlungspflicht durch das GMG vom 14.11.2003 (BGBl I 2190)
als Folge der Änderung des Konzepts des SGB V mit Wirkung zum 1.1.2004
abgeschafft worden ist. Seit dem 1.1.2004 haben Sozialhilfeempfänger wie
alle gesetzlich Versicherten Zuzahlungen von bis zu 2 vH ihres
Bruttoeinkommens, chronisch Kranke, zu denen der Kläger zählen dürfte,
bis 1 vH ihres Bruttoeinkommens zu erbringen (Belastungsgrenze, § 62 Abs
1 Satz 2 SGB V). Diese sind mithin weder ein besonderer Anlass iS des §
21 Abs 1a Nr 7 BSHG, noch rechtfertigen sie alleine die Erhöhung des
Regelsatzes.
16
Dieses Konzept ist nicht verfassungswidrig.
Wie der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 22.4.2008
(BSGE 100, 221 ff = SozR 4-2500 § 62 Nr 6) zur Verfassungsmäßigkeit der
durch das GMG geänderten §§ 61, 62 SGB V ausgeführt hat, ist
Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Prüfung die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur grundsätzlichen
Verfassungsmäßigkeit von Zuzahlungsregelungen in der GKV. Danach ist es
dem Gesetzgeber prinzipiell erlaubt, den Versicherten über den Beitrag
hinaus zur Entlastung der Krankenkassen und zur Stärkung des
Kostenbewusstseins in Form von Zuzahlungen zu bestimmten Leistungen zu
beteiligen, jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell zugemutet
werden kann (BVerfGE 115, 25, 46 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 27;
BVerfG, Beschluss vom 7.3.1994 - 1 BvR 2158/93 -, NJW 1994, 3007 ff;
BVerfGE 70, 1 ff = SozR 2200 § 376d Nr 1).
17
Die ersatzlose
Streichung der vor dem 1.1.2004 nach § 61 SGB V aF gegebenen Möglichkeit
der vollständigen Befreiung von der Zuzahlungspflicht verstößt, wie der
1. Senat zu Recht ausgeführt hat, ebenso wenig gegen das
Vertrauensschutzprinzip (Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG) wie die
sozialhilferechtliche "Verlagerung" von Zuzahlungen in den Regelsatz.
Eine echte Rückwirkung (bzw Rückbewirkung von Rechtsfolgen) liegt
ohnedies nicht vor. Sie ist nur anzunehmen, wenn ein Gesetz nachträglich
ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände
eingreift, oder wenn der Beginn seiner zeitlichen Anwendung auf einen
Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm
durch ihre Verkündung rechtlich existent, das heißt gültig geworden ist
(vgl BVerfG, Beschluss vom 21.7.2010 - 1 BvL 11/06 ua -, Juris RdNr 71
mwN). Die Einbeziehung von Zuzahlungen im Gesundheitsbereich in den
Regelsatz erfasste keine in der Vergangenheit bereits abgewickelten
Tatbestände.
18
Sie beinhaltet auch keine unzulässige unechte
Rückwirkung. Eine solche Rückwirkung (bzw tatbestandliche
Rückanknüpfung) liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht
abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft
einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich
entwertet (vgl: BVerfGE 69, 272, 309 = SozR 2200 § 165 Nr 81 S 132;
BVerfGE 72, 141, 154 = SozR 2200 § 1265 Nr 78 S 260; BVerfGE 101, 239,
263; 123, 186, 257), oder wenn die Rechtsfolgen einer Norm zwar erst
nach ihrer Verkündung eintreten, deren Tatbestand aber Sachverhalte
erfasst, die bereits vor der Verkündung "ins Werk gesetzt" worden sind
(vgl: BVerfGE 72, 200, 242; 97, 67, 79; 105, 17, 37 f; 109, 133, 181).
Die Einbeziehung von Zuzahlungen im Gesundheitsbereich in den Regelsatz
bewirkt keine solche unechte Rückwirkung oder tatbestandliche
Rückanknüpfung. Der Anspruch der Sozialhilfebezieher, von Zuzahlungen
befreit zu sein, hatte durch die Rechtsordnung keine Ausgestaltung
erfahren, die über die jeweils aktuelle Bedürftigkeit hinaus eine
verfestigte Rechtsposition begründete. Sozialhilfe ist insoweit
strukturell anerkanntermaßen keine rentenähnliche Leistung (vgl nur
Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl 2010, Einleitung RdNr 81 ff
mwN). Geschützt ist mithin nur das (aktuelle) Existenzminimum als
solches, nicht seine konkrete Ausgestaltung.
19
Selbst wenn
man dies anders sähe, wäre mit der Gesetzesänderung keine unzulässige
unechte Rückwirkung verbunden. Vielmehr ist eine solche grundsätzlich
unter Berücksichtigung der Grundrechte des Klägers zulässig (vgl das
Senatsurteil vom 16.12.2010 - B 8 SO 9/09 R - mwN). Denn die Verfassung
gewährt keinen generellen Schutz vor einer nachteiligen Veränderung der
geltenden Rechtslage (vgl: BVerfGE 38, 61, 83; 105, 17, 40). Eine
schützenswerte Rechtsposition liegt daher nicht schon in der
voraussichtlichen Einschlägigkeit bestimmter Vorschriften in der Zukunft
(BVerfG, Beschluss vom 7.12.2010 - 1 BvR 2628/07 -, SGb 2011, 90 =
Juris RdNr 49). Die Interessen und Rechte des Klägers sind ausreichend
gewahrt.
20
Der Gesetzgeber hat jedenfalls in Fällen eines
unabweisbaren, anders nicht abdeckbaren Bedarfs an Leistungen der GKV,
die von Zuzahlungen abhängen, sichergestellt, dass die
Leistungsberechtigten den für Zuzahlungen nach § 61 SGB V erforderlichen
Betrag darlehensweise erhalten (§ 37 SGB XII ab 1.1.2005). Das Darlehen
ist unverzinslich und in monatlichen Raten zu tilgen. Das bewirkt, dass
bei kostenaufwendigeren Leistungen der GKV, bei denen bereits zu Beginn
eines Jahres die gesamte zumutbare Zuzahlung zu leisten ist, die
Zuzahlungslast durch das Darlehen auf zwölf Monate verteilt werden kann.
§ 37 SGB XII hat zwar im BSHG keine unmittelbare Vorgängervorschrift;
jedoch liegt das an dem anderen Konzept des BSHG mit weitgehenden
Einmalleistungen (Becker in jurisPK-SGB XII, § 37 RdNr 7), die ohnedies
neben dem pauschalierten Regelsatz im Einzelfall das Existenzminimum
über den Regelsatz hinaus sicherten.
21
Durch die Zuzahlung
wird nicht in das verfassungsrechtlich gesicherte Existenzminimum des
Klägers eingegriffen. Bei einer konkreten Belastung des Klägers - auf
das Jahr bezogen - mit einem Betrag von 35,52 Euro (= einer monatlichen
Belastung entsprechend 2,96 Euro) bzw 41,40 Euro (= monatlich 3,45 Euro)
ist nicht ersichtlich, dass dieses Existenzminimum nicht mehr
gewährleistet wäre. So bezieht sich die Kritik des Klägers auch konkret
darauf, dass sich "das Sozialhilfeniveau" inzwischen "im unteren
Grenzbereich des Menschenwürdegehalts" bewege und deswegen durch die neu
geschaffenen Regelungen eine Verletzung des Art 1 GG vorliege.
22
In
welcher Mindesthöhe das sozialrechtlich zu gewährende Existenzminimum
verfassungsrechtlich gesichert ist, hat das BVerfG aber zu Recht nicht
festgelegt, sondern in der Entscheidung vom 9.2.2010 (BVerfGE 125, 175
ff) ausdrücklich eine unzureichende Absicherung durch das einfache Recht
verneint; denn es ist nach der Konzeption des Art 1 Abs 1 GG und Art 20
Abs 1 GG Sache des Gesetzgebers, die Höhe des verfassungsrechtlich
gesicherten Existenzminimums auszugestalten (zu den unterschiedlichen in
Rechtsprechung und Literatur vertretenen Standpunkten zur Definition
des Existenzminimums und zur Festlegung von Untergrenzen hierfür vgl
BSGE 100, 221 ff RdNr 34 ff = SozR 4-2500 § 62 Nr 6). Wie das BVerfG im
Urteil vom 9.2.2010 zur Verfassungsgemäßheit der Gewährleistung des
verfassungsrechtlich gebotenen Existenzminimums durch Regelleistungen ab
1.1.2005 zu § 20 Abs 2 SGB II, die hinsichtlich ihrer Höhe den
Regelsätzen nach § 28 SGB XII entsprechen, entschieden hat (BVerfGE,
aaO, S 232 f), hat sich der Gesetzgeber zur Bestimmung der
Regelleistungen jedenfalls auf ein Verfahren gestützt, das im Grundsatz
geeignet ist, die notwendigen Leistungen realitätsgerecht zu bemessen. §
28 Abs 3 SGB XII und § 2 RSV bilden die Grundlage für diese Bemessung.
Die Bundesregierung hat das Verfahren der Regelsatzbemessung sogar als
Referenzsystem für die Bestimmung der Regelleistung bezeichnet
(BR-Drucks 635/06, S 5). Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die
Umstellung der Bedarfsdeckung von Einzel- und Sonderbedarfen des BSHG
auf die Regelsatzgewährung iS des § 28 Abs 1 SGB XII bestehen hiernach
nicht.
23
Bei der Ordnung von Massenerscheinungen darf der
Gesetzgeber typisierende und pauschalierende Regelungen treffen (vgl:
BVerfGE 87, 234, 255 f = SozR 3-4100 § 137 Nr 3 S 29 f; BVerfGE 100, 59,
90 = SozR 3-8570 § 6 Nr 3 S 28). Dies gilt auch für Leistungen zur
Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl BVerfGE, aaO, S
253). Das BVerfG hat damit die konzeptionell bereits 2004 vorgenommene
Einbeziehung der Zuzahlungen in die Regelleistung unbeanstandet gelassen
und dabei festgestellt, dass die gesetzlich festgesetzten
Regelleistungsbeträge nicht evident unzureichend sind; es hat den
Gesetzgeber daher nicht unmittelbar von Verfassungs wegen für
verpflichtet gehalten, höhere Leistungen festzusetzen (BVerfGE, aaO, S
256). Vielmehr muss er (lediglich) ein Verfahren zur realitäts- und
bedarfsgerechten Ermittlung der zur Sicherung eines menschenwürdigen
Existenzminimums notwendigen Leistungen entsprechend den aufgezeigten
verfassungsrechtlichen Vorgaben durchführen und dessen Ergebnis im
Gesetz als Leistungsanspruch verankern. Dies hat in einem
verfassungsgemäßen Verfahren bis zum 31.12.2010 zu geschehen. Bis zu
diesem Zeitpunkt bleiben die verfassungswidrigen Normen jedoch weiterhin
anwendbar (BVerfGE, aaO, S 256). Dies gilt auch für die niedrigeren
Regelleistungen des BSHG, weil diese konzeptionell den gleichen
Überlegungen folgen, und lediglich mit Rücksicht darauf geringer waren,
dass die ab 1.1.2005 maßgebenden Regelsätze frühere Einmalleistungen
einbezogen haben (Gutzler in jurisPK-SGB XII, § 27 RdNr 11, sowie § 28
RdNr 34 ff, jeweils mwN).
24
Auch der vom Kläger behauptete
Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG liegt nicht vor. Der allgemeine
Gleichheitssatz gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und
wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl: BVerfGE 120, 1, 29;
122, 210, 230). Er gilt für ungleiche Belastungen wie für ungleiche
Begünstigungen (vgl: BVerfGE 116, 164, 180; 122, 210, 230). Aus dem
allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und
Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber,
die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengeren Bindung an
Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (vgl: BVerfGE 116, 164, 180;
117, 1, 30; 120, 1, 29; 123, 1, 19). Für die Anforderungen an
Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen kommt es
wesentlich darauf an, in welchem Maß sich die Ungleichbehandlung von
Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter
Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl: BVerfGE 105, 73, 110 f; 112,
164, 174 = SozR 4-7410 § 32 Nr 1 RdNr 14; BVerfGE 122, 210, 230).
Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der
Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, lassen sich nicht abstrakt
und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen
unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen (vgl: BVerfGE
112, 268, 279; 122, 210, 230).
25
Die vom Kläger kritisierten
Gesetzesänderungen haben zur Folge, dass den Sozialhilfeempfänger die
Zuzahlungspflicht nunmehr gleichermaßen trifft wie jeden in der
gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten; damit hat der Gesetzgeber
lediglich ein Privileg der Sozialhilfeempfänger abgebaut. Denn mit der
Änderung der Zuzahlungsregelungen zielte er darauf ab, die
Belastungsgerechtigkeit dadurch zu verbessern, dass grundsätzlich alle
Beteiligten in die Zuzahlungsregelungen einbezogen werden sollten
(BT-Drucks 15/1525, S 71). Der vom Kläger insbesondere angeführten
Tatsache, er unterscheide sich von anderen Sozialhilfeempfängern
dadurch, dass er infolge chronischer Erkrankung auf dauernde
Medikamenteneinnahme angewiesen sei, ist dadurch Rechnung getragen, dass
bei chronisch Kranken Zuzahlungen auf bis zu 1 vH ihres
Bruttoeinkommens begrenzt sind, während nicht chronisch Kranke bis zu 2
vH ihres Bruttoeinkommens aufwenden müssen.
26
Anders als im
SGB II (vgl § 20 SGB II), zu dem das Urteil des BVerfG vom 9.2.2010
ergangen ist, ist die Höhe der auf Landesebene festgesetzten Regelsätze
für den Anwendungsbereich des BSHG und des SGB XII zwar in Verordnungen
(§ 22 Abs 2 BSHG bzw § 28 Abs 2 SGB XII iVm der RSV) geregelt und damit
im Hinblick auf die Normhierarchie theoretisch vom Gericht auch
korrigierbar, soweit die Regelsätze nicht ermächtigungskonform sind.
Eine solche Korrektur kann gleichwohl nicht vorgenommen werden, weil das
BVerfG im Urteil vom 9.2.2010 (aaO) die auf die Regelsatzbemessung des
SGB XII rekurrierende formell gesetzliche Regelung des SGB II bis Ende
2010 akzeptiert und ausdrücklich für die Bemessung der Regelbedarfe den
Erlass eines Gesetzes gefordert hat.
27
Das BVerfG hat in
dieser Entscheidung Parallelen zum BSHG und zum SGB XII gezogen und für
den Bereich der Sozialhilfe betont, trotz des in § 3 Abs 1 Satz 1 BSHG
(jetzt § 9 SGB XII) niedergelegten Individualisierungsgrundsatzes,
wonach sich Art, Form und Maß der Sozialhilfe nach der Besonderheit des
Einzelfalls, vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der Art
seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen zu richten hatten, seien
nach § 22 Abs 1 Satz 1 BSHG laufende Leistungen zum Lebensunterhalt
grundsätzlich "nach Regelsätzen" gewährt worden, die von den
Landesbehörden nach bundesgesetzlichen Vorgaben und nach einer RSV des
zuständigen Bundesministeriums festzusetzen gewesen seien (BVerfGE, aaO,
S 187). Die Regelsätze seien zunächst nach dem sog Warenkorbmodell,
später nach dem Statistikmodell ermittelt worden; letzteres sei mit
Wirkung ab dem 1.8.1996 in § 22 Abs 3 BSHG (in der Fassung des Art 1 des
Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts vom 23.7.1996 - BGBl I 1088),
dem der heutige § 28 Abs 3 SGB XII im Wesentlichen entspreche,
gesetzlich verankert worden (BVerfGE, aaO, S 188). Damit hat das BVerfG
zum Ausdruck gebracht, dass es auch das Regelsatzsystem des BSHG/SGB XII
zur Grundlage seiner Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit gemacht hat
(vgl BVerfGE, aaO, S 192 ff); gleichzeitig hat es die Festsetzung der
Regelleistung/des Regelsatzes ausdrücklich dem Gesetzgeber auferlegt
(BVerfGE, aaO, S 255 ff).
28
Wie sich die Leistung der HLU im
Einzelnen unter Berücksichtigung von Einkommen zusammensetzt, vermag der
Senat anhand der Feststellungen des LSG allerdings nicht zu
entscheiden. Entsprechende Feststellungen, die ggf auch einen
Hygienemehrbedarf des Klägers aufgrund seiner HIV-Infektion (vgl BSG,
Urteil vom 19.8.2010 - B 14 AS 13/10 R) zu berücksichtigen haben, wird
das LSG nachzuholen haben. Höhere Leistungen verlangen auch eine Prüfung
der Leistungsvoraussetzungen dem Grunde nach (§ 19 Abs 1 SGB XII) unter
Beachtung des § 21 SGB XII.
29
Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
http://juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=en&nr=11939
Gruß Willi S
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