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Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes – der rechtliche Rahmen der sozialen Sicherung
Seite 1 von 1
Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes – der rechtliche Rahmen der sozialen Sicherung
Hans-Jürgen Papier
I. Einführung
Das Sozialstaatesgebot ist eines der grundlegenden Strukturprinzipien
des deutschen Staats. Dies gilt sowohl in tatsächlicher
wie in rechtlicher Hinsicht. Die tatsächliche Bedeutung
des Sozialstaates lässt sich daran ermessen, dass die
soziale Marktwirtschaft und mit ihr auch die Sozialstaatlichkeit
der Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte und
bis zum heutigen Tag ein hohes Maß an Wohlstand für breite
Kreise der Bevölkerung und sozialen Frieden gebracht haben.
Ohne Übertreibung lässt sich feststellen, dass der Sozialstaat
einen nicht unwesentlichen Teil der nationalen Identität
Deutschlands ausmacht und für den sozialen Zusammen-
halt und die innere Einheit Deutschlands von überragender
Bedeutung ist. Rechtlich ist das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz
in mehreren Bestimmungen verankert: Die Bundesrepublik
Deutschland ist nach Art. 20 Abs. 1 GG ein demokratischer
und sozialer Rechtsstaat. Nach Art. 28 Abs. 1 GG
muss auch die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern
„den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen
und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes
entsprechen“. Der Europa-Artikel 23 des Grundgesetzes
schließlich ermächtigt die Bundesrepublik dazu, an der Entwicklung
der Europäischen Union mitzuwirken, die (unter
anderem) „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und
föderativen Grundsätzen“ verpflichtet ist.
Heute befindet sich der Sozialstaat in einer Zeit des Umbruchs.
In letzter Zeit angegangene und noch anstehende
Reformaufgaben betreffen zentrale Fragen der Sozialpolitik
und der sozialstaatlichen Gesetzgebung. Genannt seien
nur die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, die Sicherung eines
menschenwürdigen Existenzminimums für alle Bürger
und die Stabilisierung von Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung
angesichts veränderter Erwerbsbiographien
und des demographischen Wandels. Angesichts dieser Lage
ist der Blick vor allem darauf zu richten, welchen verfassungsrechtlichen
Rahmenbedingungen der Gesetzgeber bei
der Gestaltung und Reform des Sozialstaates unterliegt.
II. Das Sozialstaatsgebot als eines unter mehreren Staatsstrukturprinzipien
und politischer Gestaltungsauftrag
Das Grundgesetz selbst verwendet an keiner Stelle die – ansonsten
ja allgemein gebräuchliche – Wortverbindung „Sozialstaat“.
Das Adjektiv „sozial“ tritt vielmehr in den eingangs
genannten Bestimmungen als eines unter mehreren
Prinzipien auf, so in Art. 20 Abs. 1 GG in der Verbindung
„demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Dieser Zusammenhang
zwischen dem sozialen Staatsziel und den übrigen
Grundprinzipien ist kein Zufall. Der Staatszielbestimmung
der Sozialstaatlichkeit kommt in diesem Geflecht kein Vor-
rang zu, so dass die staatliche Durchsetzung oder Förderung
des sozialen Staatsziels stets die Verfahrens-, Kompetenz-
und Grundrechtsbestimmungen der bundes-, demokratie-
und rechtsstaatlichen Verfassungsordnung zu wahren hat.
1
Das Sozialstaatsprinzip ist hierbei ein Prinzip, das in besonderer
Weise auf eine politische Realisation und Umsetzung
angewiesen ist; und es ist auch nicht der „totale Sozialstaat"
, sondern „die soziale Demokratie in den Formen des
Rechtsstaats“, die der grundgesetzlichen Ordnung entspricht
spricht.
Bestätigt und ergänzt wird dies durch einen zweiten
Punkt: Das Grundgesetz verzichtet auf eine ausdrückliche
nähere Präzisierung des Begriffs „sozial“. Das Grundgesetz
enthält – anders als noch die Weimarer Reichsverfassung
von 1919 – kein ausdrückliches soziales Programm, keine
materielle Sozialverfassung.
3
Das Sozialstaatsprinzip des
Grundgesetzes zeichnet sich vielmehr durch eine relative
inhaltliche Unbestimmtheit und Offenheit aus. Es ist gerichtet
auf den Ausgleich der sozialen Gegensätze und die
Schaffung einer gerechten Sozialordnung.
4
Diese Offenheit führt dazu, dass der Begriff der „sozialen
Gerechtigkeit“ – ebenso wie die Frage „Was ist Gerechtigkeit"
5
– Gegenstand ernster und zum Teil heftiger Auseinandersetzungen
im politischen, theologischen, philosophischen
und rechtlichen Bereich war und ist. Von Karl
Marx‘ Grundsatz: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem
nach seinen Bedürfnissen“
6
bis zu Friedrich von Hayeks
These von der bloßen „Illusion der sozialen Gerechtigkeit“
7
ließen sich zu der Frage, welche inhaltlichen Kriterien „Gerechtigkeit"
im Allgemeinen und „soziale Gerechtigkeit“
im Besonderen ausmachen, alle denkbaren Varianten von
Antworten nachweisen. In der öffentlichen Diskussion
wird beispielsweise eine immer tiefer werdende Kluft zwischen
Arm und Reich, zwischen den Regelleistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts der Hartz-IV-Empfänger
einerseits und jährlichen Millionenbezügen von Vorstands-
vorsitzenden von DAX-Unternehmen als soziale Ungerechtigkeit
gegeißelt. Als zentrale Forderung sozialer Gerechtigkeit
wird auch der Satz aufgestellt, dass jeder anständig
Arbeitende auch einen anständigen Lohn beziehen müsse –
Stichwort: staatlich garantierte Mindestlöhne, während andere
– im Ergebnis gerade dieser Forderung vielfach wider-
sprechend – sagen, dass sozial gerecht alles das sei, was Arbeitsplätze
schaffe. Man kann daher ohne Übertreibung
festhalten, dass das Stichwort der sozialen Gerechtigkeit
im politischen Raum vielfach als „Kampfbegriff“ verwendet
49
wird, nicht selten zur Durchsetzung oder Abstützung
politischer Interessen zu Gunsten der jeweils eigenen, zu
vertretenden Klientel.
Verfassungsrechtlich ist der Staat lediglich allgemein zu
„sozialer Aktivität“ sowie insbesondere dazu verpflichtet,
„sich um einen erträglichen Ausgleich der widerstreitenden
Interessen und um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen
für alle zu bemühen“.
8
Das alles sind Ziele
und Handlungsaufträge, denen ein hoher Konkretisierungs-
bedarf eigen ist. Ihm nachzukommen ist in erster Linie Sache
des parlamentarischen Gesetzgebers. Der Gesetzgeber
verfügt dabei, wie das Bundesverfassungsgericht stets betont
hat, über einen weiten Spielraum der Gestaltung und
Abwägung.
9
Jahrzehntelang wurde soziale Gerechtigkeit vor allem als
Frage des sozialen Ausgleichs innerhalb der Gesellschaft
der Gegenwart gesehen. Damit einher ging ein gewaltiger
Ausbau des Sozialstaates. Unsere Gesellschaft und mit ihr
der Sozialstaat haben dabei jedoch schon seit längerem
über ihre Verhältnisse gelebt. Hinzu kommt das statistische
Phänomen des „doppelten Alterungsprozesses“, also der
Umstand, dass seit gut vierzig Jahren die Geburtenrate pro
Frau unter zwei liegt und dass gleichzeitig die Lebenserwartung
immer weiter steigt. Dass heute die Erhaltung und
die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme zu einer
erheblichen Last für unser Gemeinwesen geworden sind,
umschreibt das wirkliche Problem nicht vollständig. Es
kommt nämlich hinzu, dass diese Last zunehmend den jüngeren
Menschen aufgebürdet oder auf nachkommende Generationen
verschoben wird. Zwar hat es schon einige An-
passungsmaßnahmen gegeben.
10
Der Sozialstaat wird sich
aber angesichts der Schuldenlast weiter reformieren und
sich künftig nicht mehr nur um einen sozialen Ausgleich
in der Gegenwart kümmern müssen, sondern auch eine an-
gemessene Lastenverteilung zwischen den Generationen
und mit Blick in die Zukunft anzustreben haben. Zur bis weilen so bezeichneten „Generation der Erben“ zu gehören,
wird andernfalls zu einer schwer zu schulternden Belastung.
Die relative Offenheit des Sozialstaatsprinzips
vermeidet dabei die Fixierung auf starre Sozialmodelle und sie
erleichtert die Anpassung an sich wandelnde Herausforderungen
und Prioritäten. Sie ermöglicht und verlangt zu-
gleich auch die Berücksichtigung generationenübergreifen-
der Gerechtigkeitsüberlegungen.
Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt für intergenerationelle
Ansätze ist also gerade das Sozialstaatsprinzip, das eben
auch eine „zeitliche Dimension“ hat. Insbesondere im Bereich
der Sozialversicherung wird vom Bundesverfassungsgericht
die „Erhaltung der Funktions- und Leistungsfähigkeit
der Sozialversicherungssysteme“ regelmäßig als rechtfertigendes
Argument für Veränderungen bestehender Standards
aufgeführt.
12
Es liegt nahe, diese eher technische Figur als
Ausdruck generationenübergreifender Erwägungen zu sehen.
Denn das Erhaltungsziel ist untrennbar verbunden mit der
Zukunftsorientierung. Jedenfalls im Bereich der Sozialversicherung
wird generationenübergreifende Gerechtigkeit
über das Sozialstaatsprinzip also zu einem essentiellen
Staatsziel. Die Wahl der Mittel obliegt allerdings auch in-
soweit weitgehend dem Gesetzgeber.
13
Diesem macht die
Verfassung auch bei der generationenübergreifenden Gerechtigkeit
weniger hinsichtlich der konkreten Gestalt der jeweiligen
Einzelmaßnahmen, sondern eher hinsichtlich des verfolgten
Ziels Vorgaben. Dabei verliert der öffentliche Belang
der Erhaltung der Funktions- und Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme„ nicht an Gewicht, wenn er sich nur
durch eine Vielzahl kleiner Schritte verwirklichen lässt“.
14
Auch das
Demokratieprinzip
schränkt diesen im Rahmen
des Sozialstaatsprinzips bestehenden Spielraum des
Gesetzgebers im Hinblick auf eine generationengerechte
Gesetzgebung nicht ein. Das Bundesverfassungsgericht hat
dazu bereits im Jahr 1989
15
Folgendes festgehalten: „
Zwar
entspricht der Demokratie der Gedanke der Herrschaft
weiter im Link
Quelle:
http://www.kas.de/upload/dokumente/verlagspublikationen/Sozialstaat/Sozialstaat_papier.pdf
Gruß Willi S
I. Einführung
Das Sozialstaatesgebot ist eines der grundlegenden Strukturprinzipien
des deutschen Staats. Dies gilt sowohl in tatsächlicher
wie in rechtlicher Hinsicht. Die tatsächliche Bedeutung
des Sozialstaates lässt sich daran ermessen, dass die
soziale Marktwirtschaft und mit ihr auch die Sozialstaatlichkeit
der Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte und
bis zum heutigen Tag ein hohes Maß an Wohlstand für breite
Kreise der Bevölkerung und sozialen Frieden gebracht haben.
Ohne Übertreibung lässt sich feststellen, dass der Sozialstaat
einen nicht unwesentlichen Teil der nationalen Identität
Deutschlands ausmacht und für den sozialen Zusammen-
halt und die innere Einheit Deutschlands von überragender
Bedeutung ist. Rechtlich ist das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz
in mehreren Bestimmungen verankert: Die Bundesrepublik
Deutschland ist nach Art. 20 Abs. 1 GG ein demokratischer
und sozialer Rechtsstaat. Nach Art. 28 Abs. 1 GG
muss auch die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern
„den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen
und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes
entsprechen“. Der Europa-Artikel 23 des Grundgesetzes
schließlich ermächtigt die Bundesrepublik dazu, an der Entwicklung
der Europäischen Union mitzuwirken, die (unter
anderem) „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und
föderativen Grundsätzen“ verpflichtet ist.
Heute befindet sich der Sozialstaat in einer Zeit des Umbruchs.
In letzter Zeit angegangene und noch anstehende
Reformaufgaben betreffen zentrale Fragen der Sozialpolitik
und der sozialstaatlichen Gesetzgebung. Genannt seien
nur die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, die Sicherung eines
menschenwürdigen Existenzminimums für alle Bürger
und die Stabilisierung von Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung
angesichts veränderter Erwerbsbiographien
und des demographischen Wandels. Angesichts dieser Lage
ist der Blick vor allem darauf zu richten, welchen verfassungsrechtlichen
Rahmenbedingungen der Gesetzgeber bei
der Gestaltung und Reform des Sozialstaates unterliegt.
II. Das Sozialstaatsgebot als eines unter mehreren Staatsstrukturprinzipien
und politischer Gestaltungsauftrag
Das Grundgesetz selbst verwendet an keiner Stelle die – ansonsten
ja allgemein gebräuchliche – Wortverbindung „Sozialstaat“.
Das Adjektiv „sozial“ tritt vielmehr in den eingangs
genannten Bestimmungen als eines unter mehreren
Prinzipien auf, so in Art. 20 Abs. 1 GG in der Verbindung
„demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Dieser Zusammenhang
zwischen dem sozialen Staatsziel und den übrigen
Grundprinzipien ist kein Zufall. Der Staatszielbestimmung
der Sozialstaatlichkeit kommt in diesem Geflecht kein Vor-
rang zu, so dass die staatliche Durchsetzung oder Förderung
des sozialen Staatsziels stets die Verfahrens-, Kompetenz-
und Grundrechtsbestimmungen der bundes-, demokratie-
und rechtsstaatlichen Verfassungsordnung zu wahren hat.
1
Das Sozialstaatsprinzip ist hierbei ein Prinzip, das in besonderer
Weise auf eine politische Realisation und Umsetzung
angewiesen ist; und es ist auch nicht der „totale Sozialstaat"
, sondern „die soziale Demokratie in den Formen des
Rechtsstaats“, die der grundgesetzlichen Ordnung entspricht
spricht.
Bestätigt und ergänzt wird dies durch einen zweiten
Punkt: Das Grundgesetz verzichtet auf eine ausdrückliche
nähere Präzisierung des Begriffs „sozial“. Das Grundgesetz
enthält – anders als noch die Weimarer Reichsverfassung
von 1919 – kein ausdrückliches soziales Programm, keine
materielle Sozialverfassung.
3
Das Sozialstaatsprinzip des
Grundgesetzes zeichnet sich vielmehr durch eine relative
inhaltliche Unbestimmtheit und Offenheit aus. Es ist gerichtet
auf den Ausgleich der sozialen Gegensätze und die
Schaffung einer gerechten Sozialordnung.
4
Diese Offenheit führt dazu, dass der Begriff der „sozialen
Gerechtigkeit“ – ebenso wie die Frage „Was ist Gerechtigkeit"
5
– Gegenstand ernster und zum Teil heftiger Auseinandersetzungen
im politischen, theologischen, philosophischen
und rechtlichen Bereich war und ist. Von Karl
Marx‘ Grundsatz: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem
nach seinen Bedürfnissen“
6
bis zu Friedrich von Hayeks
These von der bloßen „Illusion der sozialen Gerechtigkeit“
7
ließen sich zu der Frage, welche inhaltlichen Kriterien „Gerechtigkeit"
im Allgemeinen und „soziale Gerechtigkeit“
im Besonderen ausmachen, alle denkbaren Varianten von
Antworten nachweisen. In der öffentlichen Diskussion
wird beispielsweise eine immer tiefer werdende Kluft zwischen
Arm und Reich, zwischen den Regelleistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts der Hartz-IV-Empfänger
einerseits und jährlichen Millionenbezügen von Vorstands-
vorsitzenden von DAX-Unternehmen als soziale Ungerechtigkeit
gegeißelt. Als zentrale Forderung sozialer Gerechtigkeit
wird auch der Satz aufgestellt, dass jeder anständig
Arbeitende auch einen anständigen Lohn beziehen müsse –
Stichwort: staatlich garantierte Mindestlöhne, während andere
– im Ergebnis gerade dieser Forderung vielfach wider-
sprechend – sagen, dass sozial gerecht alles das sei, was Arbeitsplätze
schaffe. Man kann daher ohne Übertreibung
festhalten, dass das Stichwort der sozialen Gerechtigkeit
im politischen Raum vielfach als „Kampfbegriff“ verwendet
49
wird, nicht selten zur Durchsetzung oder Abstützung
politischer Interessen zu Gunsten der jeweils eigenen, zu
vertretenden Klientel.
Verfassungsrechtlich ist der Staat lediglich allgemein zu
„sozialer Aktivität“ sowie insbesondere dazu verpflichtet,
„sich um einen erträglichen Ausgleich der widerstreitenden
Interessen und um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen
für alle zu bemühen“.
8
Das alles sind Ziele
und Handlungsaufträge, denen ein hoher Konkretisierungs-
bedarf eigen ist. Ihm nachzukommen ist in erster Linie Sache
des parlamentarischen Gesetzgebers. Der Gesetzgeber
verfügt dabei, wie das Bundesverfassungsgericht stets betont
hat, über einen weiten Spielraum der Gestaltung und
Abwägung.
9
Jahrzehntelang wurde soziale Gerechtigkeit vor allem als
Frage des sozialen Ausgleichs innerhalb der Gesellschaft
der Gegenwart gesehen. Damit einher ging ein gewaltiger
Ausbau des Sozialstaates. Unsere Gesellschaft und mit ihr
der Sozialstaat haben dabei jedoch schon seit längerem
über ihre Verhältnisse gelebt. Hinzu kommt das statistische
Phänomen des „doppelten Alterungsprozesses“, also der
Umstand, dass seit gut vierzig Jahren die Geburtenrate pro
Frau unter zwei liegt und dass gleichzeitig die Lebenserwartung
immer weiter steigt. Dass heute die Erhaltung und
die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme zu einer
erheblichen Last für unser Gemeinwesen geworden sind,
umschreibt das wirkliche Problem nicht vollständig. Es
kommt nämlich hinzu, dass diese Last zunehmend den jüngeren
Menschen aufgebürdet oder auf nachkommende Generationen
verschoben wird. Zwar hat es schon einige An-
passungsmaßnahmen gegeben.
10
Der Sozialstaat wird sich
aber angesichts der Schuldenlast weiter reformieren und
sich künftig nicht mehr nur um einen sozialen Ausgleich
in der Gegenwart kümmern müssen, sondern auch eine an-
gemessene Lastenverteilung zwischen den Generationen
und mit Blick in die Zukunft anzustreben haben. Zur bis weilen so bezeichneten „Generation der Erben“ zu gehören,
wird andernfalls zu einer schwer zu schulternden Belastung.
Die relative Offenheit des Sozialstaatsprinzips
vermeidet dabei die Fixierung auf starre Sozialmodelle und sie
erleichtert die Anpassung an sich wandelnde Herausforderungen
und Prioritäten. Sie ermöglicht und verlangt zu-
gleich auch die Berücksichtigung generationenübergreifen-
der Gerechtigkeitsüberlegungen.
Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt für intergenerationelle
Ansätze ist also gerade das Sozialstaatsprinzip, das eben
auch eine „zeitliche Dimension“ hat. Insbesondere im Bereich
der Sozialversicherung wird vom Bundesverfassungsgericht
die „Erhaltung der Funktions- und Leistungsfähigkeit
der Sozialversicherungssysteme“ regelmäßig als rechtfertigendes
Argument für Veränderungen bestehender Standards
aufgeführt.
12
Es liegt nahe, diese eher technische Figur als
Ausdruck generationenübergreifender Erwägungen zu sehen.
Denn das Erhaltungsziel ist untrennbar verbunden mit der
Zukunftsorientierung. Jedenfalls im Bereich der Sozialversicherung
wird generationenübergreifende Gerechtigkeit
über das Sozialstaatsprinzip also zu einem essentiellen
Staatsziel. Die Wahl der Mittel obliegt allerdings auch in-
soweit weitgehend dem Gesetzgeber.
13
Diesem macht die
Verfassung auch bei der generationenübergreifenden Gerechtigkeit
weniger hinsichtlich der konkreten Gestalt der jeweiligen
Einzelmaßnahmen, sondern eher hinsichtlich des verfolgten
Ziels Vorgaben. Dabei verliert der öffentliche Belang
der Erhaltung der Funktions- und Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme„ nicht an Gewicht, wenn er sich nur
durch eine Vielzahl kleiner Schritte verwirklichen lässt“.
14
Auch das
Demokratieprinzip
schränkt diesen im Rahmen
des Sozialstaatsprinzips bestehenden Spielraum des
Gesetzgebers im Hinblick auf eine generationengerechte
Gesetzgebung nicht ein. Das Bundesverfassungsgericht hat
dazu bereits im Jahr 1989
15
Folgendes festgehalten: „
Zwar
entspricht der Demokratie der Gedanke der Herrschaft
weiter im Link
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http://www.kas.de/upload/dokumente/verlagspublikationen/Sozialstaat/Sozialstaat_papier.pdf
Gruß Willi S
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