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Ein wirksamer Antrag auf ALG II wurde gestellt, auch wenn der Antragsteller seinen Antrag bei dem Sozialamt als unzuständigen Leistungsträger gestellt hat Landessozialgericht Berlin-Brandenburg,Beschluss vom 20.04.2012,- L 19 AS 1029/11 B PKH -
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Ein wirksamer Antrag auf ALG II wurde gestellt, auch wenn der Antragsteller seinen Antrag bei dem Sozialamt als unzuständigen Leistungsträger gestellt hat Landessozialgericht Berlin-Brandenburg,Beschluss vom 20.04.2012,- L 19 AS 1029/11 B PKH -
1. Die Auslegung eines Antrags auf
Gewährung von Sozialleistungen folgt dem Grundsatz der Meistbegünstigung
(vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 02. Juli 2009 – B 14 AS
75/08 R - in SozR 4 – 4200 § 7 Nr. 13). Sofern eine ausdrückliche
Beschränkung auf eine bestimmte Leistung nicht vorliegt, ist davon
auszugehen, dass der Leistungsberechtigte die Sozialleistung begehrt,
die nach der Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommt (vgl. BSG,
Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 16/09 R - in SozR 4 - 4200 § 37
Nr. 3 m. w. N.).
2. Ein sozialrechtlicher
Herstellungsanspruch kann sich grundsätzlich auch aus dem fehlerhaften
Verhalten anderer Behörden ergeben.
Einer anderen Behörde als
der für die Entscheidung über die begehrte Leistung befugten Stelle
kann eine Beratungspflicht, deren Verletzung zu einem sozialrechtlichen
Herstallungsanspruch gegen die zuständige Behörde führt, dann obliegen,
wenn die andere Behörde vom Gesetzgeber im Sinne einer Funktionseinheit
"arbeitsteilig" in das Verfahren eingeschaltet ist (so BSG in SozR 3 –
1200 § 14 Nr. 22 m. w. N.).
Gericht: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 19. Senat
Entscheidungsdatum: 20.04.2012
Aktenzeichen: L 19 AS 1029/11 B PKH
Dokumenttyp: Beschluss
Normen: § 73a SGG, §§ 114 ZPO, § 37 Abs 1 SGB 2, § 16 SGB 1
hinreichende Erfolgsaussicht - Prozesskostenhilfe - Antrag -
Sozialamt - Mittellosigkeitsbescheinigung - sozialrechtlicher
Herstellungsanspruch
Tenor
Auf die Beschwerde des
Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 18. April 2011
aufgehoben. Dem Kläger wird für die Zeit ab dem 01. November 2010
Prozesskostenhilfe ohne Festsetzung von Monatsraten und aus dem Vermögen
zu zahlenden Beträgen unter Beiordnung von Rechtsanwalt S H bewilligt.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
1
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Klägers gegen
den den Antrag auf Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss des
Sozialgerichts ist zulässig und begründet. Er hat Anspruch auf
Prozesskostenhilfe gemäß § 73 a Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. V. m. §§
114 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).
2
Nach § 114 Satz 1
ZPO erhält ein Prozessbeteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn
er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die
Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten
aufbringen kann und wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende
Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
3
Das Sozialgericht hat im angefochtenen Beschluss zu Unrecht eine
hinreichende Erfolgsaussicht verneint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten
ist auf den für das Hauptsacheverfahren zugrunde zu legenden Sachantrag
zu beziehen. Hieran anknüpfend ist eine hinreichende Erfolgsaussicht
gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt der Kläger aufgrund der
Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend
oder für zumindest vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht
gegebenenfalls von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (vgl.
Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. A. 2008, § 73 a
RdNr. 7a). Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der
hinreichenden Erfolgsaussicht ist unter Zugrundelegung der ständigen
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu beachten, dass
die Prüfung der Erfolgsaussicht der Klage bei der gebotenen
verfassungskonformen Auslegung nicht dazu führen darf, die Klärung der
Tatsachen und Rechtsfragen selbst in das summarische Verfahren der
Prozesskostenhilfe vorzuverlagern, weil Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG)
in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) eine
weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten
bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes gebietet, auch wenn der
Unbemittelte allerdings nur einem solchen Bemittelten gleichgestellt zu
werden braucht, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei
auch das Kostenrisiko berücksichtigt (vgl. BVerfG, 1. Senat, 2. Kammer,
Beschluss vom 28. November 2007 – 1 BvR 68/07, 1BvR 70/07, 1 BvR 71/07
-; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Oktober
2008 – L 25 AS 435/08 AS PKH -; jeweils zitiert nach juris).
Dementsprechend dürfen schwierige, bislang nicht geklärte Rechts- und
Tatfragen im Prozesskostenhilfeverfahren nicht entschieden werden,
sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung
zugeführt werden können (vgl. BVerfG a. a. O.).
4
Unter Zugrundelegung dieser Vorgaben ist die hinreichende
Erfolgsaussicht hier zu bejahen. Der Kläger ficht in der Sache den
Bescheid vom 10. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 15. Dezember 2009 an, mit dem der Beklagte ihm Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts sowie Kosten der Unterkunft und Heizung
nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ab dem 18. August 2009,
dem Zeitpunkt der Antragstellung bei dem Beklagten selbst, bis zum 28.
Februar 2010 bewilligte. Der Kläger wendet sich ausschließlich gegen den
Leistungsbeginn, die Leistungsgewährung habe bereits zum 16. Juli 2009
zu erfolgen. An diesem Tag wurde dem Kläger vom Bezirksamt Pankow von
Berlin - Sozialamt -, Fachbereich Materielle Leistungen, eine
Mittellosigkeitsbescheinigung ausgehändigt, da seine Einkommens- und
Vermögensverhältnisse nach den dortigen Feststellungen so ungünstig
seien, dass ohne Beeinträchtigung des Lebensunterhalts die Finanzierung
eines neuen Personalausweises nicht möglich sei. Die Bescheinigung
enthält weiter den Zusatz: „ALG II beantragt – derzeit ohne“.
5
Die auf einen früheren Leistungsbeginn gerichtete Klage bietet
hinreichende Aussicht auf Erfolg, denn im Zeitpunkt der Entscheidung des
Senats ist das Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen, die die
Bewilligung der Leistungsgewährung zu einem früheren Zeitpunkt
rechtfertigen, hinreichend wahrscheinlich.
6
Der
Kläger, dem vom Sozialamt am 16. Juli 2009 Mittellosigkeit bescheinigt
wurde, hat - jedenfalls am 18. August 2009 - gemäß § 37 Abs. 1 SGB II
einen wirksamen Antrag gestellt. Danach werden Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitssuchende auf Antrag erbracht, nach § 37 Abs. 2
Satz 1 SGB II aber nicht für Zeiten vor Antragstellung. Nach § 16 Abs. 2
Sozialgesetzbuch Erstes Buch sind Anträge, die bei einem unzuständigen
Leistungsträger, bei einer für die Sozialleistung nicht zuständigen
Gemeinde oder bei einer amtlichen Vertretung der Bundesrepublik
Deutschland im Ausland gestellt werden, unverzüglich an den zuständigen
Leistungsträger weiterzuleiten. Ist die Sozialleistung von einem Antrag
abhängig, so gilt dieser als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei
einer der genannten Stellen eingegangen ist.
7
Es spricht
allerdings einiges dafür, dass der Kläger bereits zuvor am 16. Juli 2009
einen früher wirksamen Antrag bei dem Sozialamt als unzuständigen
Leistungsträger gestellt hat. Die Auslegung eines Antrags auf Gewährung
von Sozialleistungen folgt dem Grundsatz der Meistbegünstigung (vgl.
Bundessozialgericht, Urteil vom 02. Juli 2009 – B 14 AS
75/08 R - in SozR 4 – 4200 § 7 Nr. 13). Sofern eine ausdrückliche
Beschränkung auf eine bestimmte Leistung nicht vorliegt, ist davon
auszugehen, dass der Leistungsberechtigte die Sozialleistung begehrt,
die nach der Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommt (vgl. BSG,
Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 16/09 R - in SozR 4 - 4200 § 37
Nr. 3 m. w. N.). Der für Sozialhilfe zuständige Senat des BSG hat
bereits entschieden (Urteil vom 26. August 2008 - B 8/9b SO 18/07 R - in
SozR 4 - 3500 § 18 Nr. 1), dass im Zweifel davon auszugehen ist, dass
ein Antrag auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch wegen
der gleichen Ausgangslage (Bedürftigkeit und Bedarf) auch als Antrag
nach dem SGB II zu werten ist. Der 14. Senat des BSG hat in seiner
Entscheidung vom 19. Oktober 2010, a. a. O., ausgeführt, in einem Antrag
auf Gewährung von Arbeitslosengeld nach dem Sozialgesetzbuch Drittes
Buch könne auch zugleich ein Antrag auf Gewährung von ALG II liegen. Ob
und gegebenenfalls welchen Antrag der Kläger bei seiner Vorsprache beim
Sozialamt des Bezirksamts Pankow von Berlin am 16. Juli 2009 tatsächlich
gestellt hat, ist bisher nicht festgestellt. Es ist weder geklärt, ob
sich sein Anliegen ausdrücklich (nur) auf die Erteilung einer
Mittellosigkeitsbescheinigung zur Finanzierung eines Personalausweises
beschränkte, noch wie die Notiz der Sachbearbeiterin, ALG II sei
(bereits) beantragt, zustande gekommen ist. Dies ist schon deshalb zu
hinterfragen, weil zum 16. Juli 2009 eben kein Formvordruck für ALG II -
Leistungen festzustellen ist. Diese von Amts wegen nach § 103
Sozialgerichtsgesetz (SGG) durchzuführende Ermittlung kann durch die
Befragung des Klägers, die Beiziehung des Vorgangs beim Sozialamt (GZ:
Soz E 5425) und/oder die Befragung des zuständigen Sachbearbeiters beim
Sozialamt als Zeuge erfolgen. Ließe sich danach eine – mündliche –
Antragstellung nicht feststellen, so wäre zu prüfen, ob sich ein
Einstehenmüssen des Beklagten nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen
Herstellungsanspruchs ergibt. Möglicherweise hätte sich insbesondere
dem Mitarbeiter des Sozialamts aufdrängen müssen, dass bei bescheinigter
Mittellosigkeit eine formelle Antragstellung auf Leistungen der
Grundsicherung bzw. der Sozialhilfe anzuraten ist. Ein etwaiges
Unterlassen des Sozialamts dürfte dem Beklagten auch zurechenbar sein.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG kann sich ein sozialrechtlicher
Herstellungsanspruch grundsätzlich auch aus dem fehlerhaften Verhalten
anderer Behörden ergeben. Einer anderen Behörde als der für die
Entscheidung über die begehrte Leistung befugten Stelle kann eine
Beratungspflicht, deren Verletzung zu einem sozialrechtlichen
Herstellungsanspruch gegen die zuständige Behörde führt, dann obliegen,
wenn die andere Behörde vom Gesetzgeber im Sinne einer Funktionseinheit
„arbeitsteilig“ in das Verfahren eingeschaltet ist (so BSG in SozR 3 –
1200 § 14 Nr. 22 m. w. N.). Dass das Sozialamt arbeitsteilig in das
Verfahren beim Beklagten eingeschaltet war, dürfte hier zwar nicht zu
bejahen sein. Allerdings hat das BSG einen Herstellungsanspruch aber
auch bei Bestehen eines Konkurrenzverhältnisses zwischen zwei Leistungen
angenommen (vgl. BSG in SozR 1200 § 14 Nr. 19). Danach ist eine dem
zuständigen Leistungsträger zurechenbare Beratungspflicht einer anderen
Behörde zumindest dann anzunehmen, wenn die Zuständigkeitsbereiche
beider Stellen materiell-rechtlich eng miteinander verknüpft sind, die
andere Behörde im maßgeblichen Zeitpunkt aufgrund eines bestehenden
Kontaktes der aktuelle „Ansprechpartner“ ist und die Behörde aufgrund
der ihr bekannten Umstände erkennen kann, dass bei dem Antragsteller im
Hinblick auf das andere sozialrechtliche Gebiet ein dringender
Beratungsbedarf besteht (vgl. BSG in SozR 3-1200 § 14 Nr. 22). Eine
derartige Fallkonstellation kommt hier in Betracht, denn das Sozialamt
wird ebenso wie der Beklagte wegen Bedürftigkeit und Bedarf des
Hilfesuchenden in Anspruch genommen (s. o.), die sachliche Zuständigkeit
des einzelnen Leistungsträgers hängt im Wesentlichen von der
Erwerbsfähigkeit der Hilfebedürftigen ab. Dies rechtfertigt es,
grundsätzlich einen Beratungsfehler des Sozialamts dem Beklagten
zuzurechnen. Ob ein solcher Beratungsfehler und die weiteren
Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hier
vorliegen, ist noch zu ermitteln. Erst wenn das Gericht alle
Ermittlungsmöglichkeiten unter Berücksichtigung aller speziellen
Umstände des Einzelfalls ausgeschöpft hat, stellt sich die Frage nach
der objektiven Beweislast (vgl. Leitherer in
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. A. 2008, §103 RdNr. 19a m. w.
N.).
8
Der Senat hält es für hinreichend wahrscheinlich, dass
der Kläger in der Zeit vom 16. Juli 2009 bis zum 17. August 2009 auch
die übrigen Voraussetzungen einer Leistungsgewährung nach § 7 Abs. 1 SGB
II erfüllt. Er war in diesem Zeitraum 45 Jahre alt, dürfte seinen
gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gehabt haben
und erwerbsfähig gewesen sein. Für seine Hilfebedürftigkeit auch in
diesem Zeitraum spricht die Mittellosigkeitsbescheinigung des
Sozialamts. Ob die Hilfebedürftigkeit des Klägers durch ein
Überbrückungsgeld nach § 51 Strafvollzugsgesetz aus seiner Zeit der Haft
vom 13. Mai 2009 bis zum 30. Juni 2009 oder aus anderen Gründen
ausgeschlossen ist, ist noch festzustellen.
9
Da die
Prozesskostenhilfebedürftigkeit des Klägers mit der am 01. November 2010
zu den Gerichtsakten gelangten Erklärung zu den persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen gemäß § 118 Abs. 2 Satz 1 ZPO glaubhaft
gemacht worden und mithin ab diesem Zeitpunkt Bewilligungsreife gegeben
gewesen ist, war Prozesskostenhilfe ab diesem Zeitpunkt zu bewilligen.
Der Senat hat keine Zweifel, dass er auch weiterhin nicht in der Lage
ist, die Kosten der Prozessführung auch nur in Raten aufzubringen (§ 114
Satz 1 ZPO).
10
Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a Abs. 1 S. 1 SGG in Verbindung mit §§ 118 Abs. 1 Satz 4, 127 Abs. 4 ZPO.
11
Dieser Beschluss ist für die Beteiligten unanfechtbar, § 73 a Abs. 1
Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 127 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 ZPO, § 177
SGG.
http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&docid=JURE120009924&psml=sammlung.psml&max=true&bs=10
http://sozialrechtsexperte.blogspot.de/2012/05/ein-wirksamer-antrag-auf-alg-ii-wurde.html
Gruß Willi S
Gewährung von Sozialleistungen folgt dem Grundsatz der Meistbegünstigung
(vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 02. Juli 2009 – B 14 AS
75/08 R - in SozR 4 – 4200 § 7 Nr. 13). Sofern eine ausdrückliche
Beschränkung auf eine bestimmte Leistung nicht vorliegt, ist davon
auszugehen, dass der Leistungsberechtigte die Sozialleistung begehrt,
die nach der Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommt (vgl. BSG,
Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 16/09 R - in SozR 4 - 4200 § 37
Nr. 3 m. w. N.).
2. Ein sozialrechtlicher
Herstellungsanspruch kann sich grundsätzlich auch aus dem fehlerhaften
Verhalten anderer Behörden ergeben.
Einer anderen Behörde als
der für die Entscheidung über die begehrte Leistung befugten Stelle
kann eine Beratungspflicht, deren Verletzung zu einem sozialrechtlichen
Herstallungsanspruch gegen die zuständige Behörde führt, dann obliegen,
wenn die andere Behörde vom Gesetzgeber im Sinne einer Funktionseinheit
"arbeitsteilig" in das Verfahren eingeschaltet ist (so BSG in SozR 3 –
1200 § 14 Nr. 22 m. w. N.).
Gericht: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 19. Senat
Entscheidungsdatum: 20.04.2012
Aktenzeichen: L 19 AS 1029/11 B PKH
Dokumenttyp: Beschluss
Normen: § 73a SGG, §§ 114 ZPO, § 37 Abs 1 SGB 2, § 16 SGB 1
hinreichende Erfolgsaussicht - Prozesskostenhilfe - Antrag -
Sozialamt - Mittellosigkeitsbescheinigung - sozialrechtlicher
Herstellungsanspruch
Tenor
Auf die Beschwerde des
Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 18. April 2011
aufgehoben. Dem Kläger wird für die Zeit ab dem 01. November 2010
Prozesskostenhilfe ohne Festsetzung von Monatsraten und aus dem Vermögen
zu zahlenden Beträgen unter Beiordnung von Rechtsanwalt S H bewilligt.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
1
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Klägers gegen
den den Antrag auf Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss des
Sozialgerichts ist zulässig und begründet. Er hat Anspruch auf
Prozesskostenhilfe gemäß § 73 a Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. V. m. §§
114 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).
2
Nach § 114 Satz 1
ZPO erhält ein Prozessbeteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn
er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die
Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten
aufbringen kann und wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende
Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
3
Das Sozialgericht hat im angefochtenen Beschluss zu Unrecht eine
hinreichende Erfolgsaussicht verneint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten
ist auf den für das Hauptsacheverfahren zugrunde zu legenden Sachantrag
zu beziehen. Hieran anknüpfend ist eine hinreichende Erfolgsaussicht
gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt der Kläger aufgrund der
Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend
oder für zumindest vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht
gegebenenfalls von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (vgl.
Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. A. 2008, § 73 a
RdNr. 7a). Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der
hinreichenden Erfolgsaussicht ist unter Zugrundelegung der ständigen
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu beachten, dass
die Prüfung der Erfolgsaussicht der Klage bei der gebotenen
verfassungskonformen Auslegung nicht dazu führen darf, die Klärung der
Tatsachen und Rechtsfragen selbst in das summarische Verfahren der
Prozesskostenhilfe vorzuverlagern, weil Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG)
in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) eine
weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten
bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes gebietet, auch wenn der
Unbemittelte allerdings nur einem solchen Bemittelten gleichgestellt zu
werden braucht, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei
auch das Kostenrisiko berücksichtigt (vgl. BVerfG, 1. Senat, 2. Kammer,
Beschluss vom 28. November 2007 – 1 BvR 68/07, 1BvR 70/07, 1 BvR 71/07
-; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Oktober
2008 – L 25 AS 435/08 AS PKH -; jeweils zitiert nach juris).
Dementsprechend dürfen schwierige, bislang nicht geklärte Rechts- und
Tatfragen im Prozesskostenhilfeverfahren nicht entschieden werden,
sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung
zugeführt werden können (vgl. BVerfG a. a. O.).
4
Unter Zugrundelegung dieser Vorgaben ist die hinreichende
Erfolgsaussicht hier zu bejahen. Der Kläger ficht in der Sache den
Bescheid vom 10. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 15. Dezember 2009 an, mit dem der Beklagte ihm Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts sowie Kosten der Unterkunft und Heizung
nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ab dem 18. August 2009,
dem Zeitpunkt der Antragstellung bei dem Beklagten selbst, bis zum 28.
Februar 2010 bewilligte. Der Kläger wendet sich ausschließlich gegen den
Leistungsbeginn, die Leistungsgewährung habe bereits zum 16. Juli 2009
zu erfolgen. An diesem Tag wurde dem Kläger vom Bezirksamt Pankow von
Berlin - Sozialamt -, Fachbereich Materielle Leistungen, eine
Mittellosigkeitsbescheinigung ausgehändigt, da seine Einkommens- und
Vermögensverhältnisse nach den dortigen Feststellungen so ungünstig
seien, dass ohne Beeinträchtigung des Lebensunterhalts die Finanzierung
eines neuen Personalausweises nicht möglich sei. Die Bescheinigung
enthält weiter den Zusatz: „ALG II beantragt – derzeit ohne“.
5
Die auf einen früheren Leistungsbeginn gerichtete Klage bietet
hinreichende Aussicht auf Erfolg, denn im Zeitpunkt der Entscheidung des
Senats ist das Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen, die die
Bewilligung der Leistungsgewährung zu einem früheren Zeitpunkt
rechtfertigen, hinreichend wahrscheinlich.
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Der
Kläger, dem vom Sozialamt am 16. Juli 2009 Mittellosigkeit bescheinigt
wurde, hat - jedenfalls am 18. August 2009 - gemäß § 37 Abs. 1 SGB II
einen wirksamen Antrag gestellt. Danach werden Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitssuchende auf Antrag erbracht, nach § 37 Abs. 2
Satz 1 SGB II aber nicht für Zeiten vor Antragstellung. Nach § 16 Abs. 2
Sozialgesetzbuch Erstes Buch sind Anträge, die bei einem unzuständigen
Leistungsträger, bei einer für die Sozialleistung nicht zuständigen
Gemeinde oder bei einer amtlichen Vertretung der Bundesrepublik
Deutschland im Ausland gestellt werden, unverzüglich an den zuständigen
Leistungsträger weiterzuleiten. Ist die Sozialleistung von einem Antrag
abhängig, so gilt dieser als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei
einer der genannten Stellen eingegangen ist.
7
Es spricht
allerdings einiges dafür, dass der Kläger bereits zuvor am 16. Juli 2009
einen früher wirksamen Antrag bei dem Sozialamt als unzuständigen
Leistungsträger gestellt hat. Die Auslegung eines Antrags auf Gewährung
von Sozialleistungen folgt dem Grundsatz der Meistbegünstigung (vgl.
Bundessozialgericht
75/08 R - in SozR 4 – 4200 § 7 Nr. 13). Sofern eine ausdrückliche
Beschränkung auf eine bestimmte Leistung nicht vorliegt, ist davon
auszugehen, dass der Leistungsberechtigte die Sozialleistung begehrt,
die nach der Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommt (vgl. BSG,
Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 16/09 R - in SozR 4 - 4200 § 37
Nr. 3 m. w. N.). Der für Sozialhilfe zuständige Senat des BSG hat
bereits entschieden (Urteil vom 26. August 2008 - B 8/9b SO 18/07 R - in
SozR 4 - 3500 § 18 Nr. 1), dass im Zweifel davon auszugehen ist, dass
ein Antrag auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch wegen
der gleichen Ausgangslage (Bedürftigkeit und Bedarf) auch als Antrag
nach dem SGB II zu werten ist. Der 14. Senat des BSG hat in seiner
Entscheidung vom 19. Oktober 2010, a. a. O., ausgeführt, in einem Antrag
auf Gewährung von Arbeitslosengeld nach dem Sozialgesetzbuch Drittes
Buch könne auch zugleich ein Antrag auf Gewährung von ALG II liegen. Ob
und gegebenenfalls welchen Antrag der Kläger bei seiner Vorsprache beim
Sozialamt des Bezirksamts Pankow von Berlin am 16. Juli 2009 tatsächlich
gestellt hat, ist bisher nicht festgestellt. Es ist weder geklärt, ob
sich sein Anliegen ausdrücklich (nur) auf die Erteilung einer
Mittellosigkeitsbescheinigung zur Finanzierung eines Personalausweises
beschränkte, noch wie die Notiz der Sachbearbeiterin, ALG II sei
(bereits) beantragt, zustande gekommen ist. Dies ist schon deshalb zu
hinterfragen, weil zum 16. Juli 2009 eben kein Formvordruck für ALG II -
Leistungen festzustellen ist. Diese von Amts wegen nach § 103
Sozialgerichtsgesetz (SGG) durchzuführende Ermittlung kann durch die
Befragung des Klägers, die Beiziehung des Vorgangs beim Sozialamt (GZ:
Soz E 5425) und/oder die Befragung des zuständigen Sachbearbeiters beim
Sozialamt als Zeuge erfolgen. Ließe sich danach eine – mündliche –
Antragstellung nicht feststellen, so wäre zu prüfen, ob sich ein
Einstehenmüssen des Beklagten nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen
Herstellungsanspruchs ergibt. Möglicherweise hätte sich insbesondere
dem Mitarbeiter des Sozialamts aufdrängen müssen, dass bei bescheinigter
Mittellosigkeit eine formelle Antragstellung auf Leistungen der
Grundsicherung bzw. der Sozialhilfe anzuraten ist. Ein etwaiges
Unterlassen des Sozialamts dürfte dem Beklagten auch zurechenbar sein.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG kann sich ein sozialrechtlicher
Herstellungsanspruch grundsätzlich auch aus dem fehlerhaften Verhalten
anderer Behörden ergeben. Einer anderen Behörde als der für die
Entscheidung über die begehrte Leistung befugten Stelle kann eine
Beratungspflicht, deren Verletzung zu einem sozialrechtlichen
Herstellungsanspruch gegen die zuständige Behörde führt, dann obliegen,
wenn die andere Behörde vom Gesetzgeber im Sinne einer Funktionseinheit
„arbeitsteilig“ in das Verfahren eingeschaltet ist (so BSG in SozR 3 –
1200 § 14 Nr. 22 m. w. N.). Dass das Sozialamt arbeitsteilig in das
Verfahren beim Beklagten eingeschaltet war, dürfte hier zwar nicht zu
bejahen sein. Allerdings hat das BSG einen Herstellungsanspruch aber
auch bei Bestehen eines Konkurrenzverhältnisses zwischen zwei Leistungen
angenommen (vgl. BSG in SozR 1200 § 14 Nr. 19). Danach ist eine dem
zuständigen Leistungsträger zurechenbare Beratungspflicht einer anderen
Behörde zumindest dann anzunehmen, wenn die Zuständigkeitsbereiche
beider Stellen materiell-rechtlich eng miteinander verknüpft sind, die
andere Behörde im maßgeblichen Zeitpunkt aufgrund eines bestehenden
Kontaktes der aktuelle „Ansprechpartner“ ist und die Behörde aufgrund
der ihr bekannten Umstände erkennen kann, dass bei dem Antragsteller im
Hinblick auf das andere sozialrechtliche Gebiet ein dringender
Beratungsbedarf besteht (vgl. BSG in SozR 3-1200 § 14 Nr. 22). Eine
derartige Fallkonstellation kommt hier in Betracht, denn das Sozialamt
wird ebenso wie der Beklagte wegen Bedürftigkeit und Bedarf des
Hilfesuchenden in Anspruch genommen (s. o.), die sachliche Zuständigkeit
des einzelnen Leistungsträgers hängt im Wesentlichen von der
Erwerbsfähigkeit der Hilfebedürftigen ab. Dies rechtfertigt es,
grundsätzlich einen Beratungsfehler des Sozialamts dem Beklagten
zuzurechnen. Ob ein solcher Beratungsfehler und die weiteren
Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hier
vorliegen, ist noch zu ermitteln. Erst wenn das Gericht alle
Ermittlungsmöglichkeiten unter Berücksichtigung aller speziellen
Umstände des Einzelfalls ausgeschöpft hat, stellt sich die Frage nach
der objektiven Beweislast (vgl. Leitherer in
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. A. 2008, §103 RdNr. 19a m. w.
N.).
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Der Senat hält es für hinreichend wahrscheinlich, dass
der Kläger in der Zeit vom 16. Juli 2009 bis zum 17. August 2009 auch
die übrigen Voraussetzungen einer Leistungsgewährung nach § 7 Abs. 1 SGB
II erfüllt. Er war in diesem Zeitraum 45 Jahre alt, dürfte seinen
gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gehabt haben
und erwerbsfähig gewesen sein. Für seine Hilfebedürftigkeit auch in
diesem Zeitraum spricht die Mittellosigkeitsbescheinigung des
Sozialamts. Ob die Hilfebedürftigkeit des Klägers durch ein
Überbrückungsgeld nach § 51 Strafvollzugsgesetz aus seiner Zeit der Haft
vom 13. Mai 2009 bis zum 30. Juni 2009 oder aus anderen Gründen
ausgeschlossen ist, ist noch festzustellen.
9
Da die
Prozesskostenhilfebedürftigkeit des Klägers mit der am 01. November 2010
zu den Gerichtsakten gelangten Erklärung zu den persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen gemäß § 118 Abs. 2 Satz 1 ZPO glaubhaft
gemacht worden und mithin ab diesem Zeitpunkt Bewilligungsreife gegeben
gewesen ist, war Prozesskostenhilfe ab diesem Zeitpunkt zu bewilligen.
Der Senat hat keine Zweifel, dass er auch weiterhin nicht in der Lage
ist, die Kosten der Prozessführung auch nur in Raten aufzubringen (§ 114
Satz 1 ZPO).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a Abs. 1 S. 1 SGG in Verbindung mit §§ 118 Abs. 1 Satz 4, 127 Abs. 4 ZPO.
11
Dieser Beschluss ist für die Beteiligten unanfechtbar, § 73 a Abs. 1
Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 127 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 ZPO, § 177
SGG.
http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&docid=JURE120009924&psml=sammlung.psml&max=true&bs=10
http://sozialrechtsexperte.blogspot.de/2012/05/ein-wirksamer-antrag-auf-alg-ii-wurde.html
Gruß Willi S
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» Mehrbedarf für behinderte Menschen - Teilnahme an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme - Kein Leistungsausschluss nach dem SGB II Landessozialgericht Berlin-Brandenburg , Beschluss vom 16.01.2012,- L 26 AS 2360/11 B ER -
» Eine darlehensweise Übernahme der Gerichts- und Anwaltskosten kann nicht auf § 22 Abs. 8 SGB II bzw § 24 Abs. 1 SGB II gestützt werden Landessozialgericht Berlin-Brandenburg,Beschluss vom 08.05.2012,- L 19 AS 951/12 B ER -
» EGV Unterschrieben trotzdem ersetzender VA Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 5 AS 2097/11 B ER 12.01.2012 rechtskräftig
» Zu den Kosten i.S.v. § 22 Abs. 6 S. 1 SGB II zählen auch unvermeidbare doppelte Mietaufwendungen ( a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 31.01.2013 - L 34 AS 721/11: Anspruchsgrundlage sei insoweit § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II).
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